Seit einigen Monaten zieht der Silberpreis kräftig nach. In unserer sechsteiligen Serie gehen wir der Frage nach, inwieweit das „Gold des kleinen Mannes“ vor dem Beginn einer Neubewertung steht. Teil 2: Warum Silber so begehrt ist
20.10.2025 | 14:00 Uhr von «Tim Bröning»
Die wichtigste Säule ist längst die Industrie. Fast 60Prozent der weltweiten Silbernachfrage stammt heute aus industriellen Anwendungen – Tendenz steigend. Nach Zahlen des Silver Institute erreichte der industrielle Verbrauch 2024 ein Rekordhoch von rund 680 Millionen Unzen, ein Plus von vier Prozent gegenüber dem Vorjahr. Getrieben wird das Wachstum von gleich mehreren Megatrends: Elektrifizierung, Digitalisierung, Energiewende. In der Photovoltaik allein wurden zuletzt fast 200 Millionen Unzen verbraucht – doppelt so viel wie noch vor zehn Jahren. Hinzu kommen rund 90 Millionen Unzen pro Jahr für den Automobilsektor, insbesondere durch die rasche Verbreitung von E-Fahrzeugen und die steigende Zahl elektrischer Kontakte, Sensoren und Ladeinfrastrukturen. In Smartphones, 5G-Komponenten, Hochleistungschips und Medizintechnik steckt zusätzliches Silber, das in Summe Hunderte Millionen Geräte pro Jahr betrifft. Der entscheidende Punkt: Dieses Silber ist meist dauerhaft „verbraucht“. Es verschwindet in Bauteilen, die technisch kaum oder wirtschaftlich sinnvoll nicht recycelt werden können.

Schmuck, Tradition und Anleger – die weiteren SäulenDie zweite Säule, die fast ein Viertel der Nachfrage ausmacht, ist der klassische Konsumbereich – Schmuck, Silberwaren und auch noch Fotografie. Weltweit ist dieser Sektor leicht rückläufig, bleibt aber kulturell verankert, insbesondere in Indien, wo Silber sowohl als Zier- als auch als Anlageform geschätzt wird. Dort stabilisiert der Schmuckabsatz den globalen Markt und bildet ein Gegengewicht zu nachlassender Nachfrage in westlichen Ländern.
Die dritte Säule ist schließlich die Investmentnachfrage. Münzen, Barren, ETFs und außerbörsliche Käufe machten auch 2024 mit ca. 18 Prozent wieder einen großen Anteil aus, wenn auch etwas weniger als in den Rekordjahren 2020–2022. Das Umfeld hoher Inflation und geopolitischer Spannungen hält die Nachfrage hoch, und erstmals seit Jahrzehnten zeigen selbst Zentralbanken wieder Interesse am Metall – allen voran Russland, das Silber künftig in seine Reserven aufnehmen will.
Für 2025 rechnet das Silver Institute mit einer anhaltend robusten Gesamtnachfrage aller drei Säulen in Summe von rund 1,2 Milliarden Unzen.
Wenn Nachfrage auf Grenzen trifft
Damit zu den Konsequenzen: Seit 2021 produziert der Silbermarkt Jahr für Jahr weniger Metall, als verbraucht wird. Laut World Silver Survey 2025 summierten sich die Defizite bis Ende 2024 auf rund 678 Millionen Unzen – das entspricht fast einer gesamten Jahresproduktion. Die Minenförderung stagniert, die Recyclingmenge kann das Delta nicht ausgleichen. 2024 lag die globale Förderung bei 820 Millionen Unzen, das Recycling bei 194 Millionen Unzen, also nur rund einem Sechstel des Bedarfs. Damit entsteht Jahr für Jahr eine Lücke, die bislang nur durch den Abbau vorhandener Lagerbestände geschlossen werden konnte.
Tatsächlich fungieren diese Lager – etwa in den LBMA-Tresoren in London oder in den COMEX-Depots in den USA – als stiller Puffer. Doch sie schrumpfen. In London sanken die Bestände von etwa 35.000 Tonnen Anfang 2021 auf rund 24.600 Tonnen im Herbst 2025. Auch die lieferfähigen Mengen an der COMEX sind seit Jahren rückläufig. Noch reichen die Vorräte, um die Defizite abzufedern, aber die Richtung ist eindeutig: Der Puffer wird dünner.
Das ist die stille Kraft, die den Silberpreis fundamental stützt. Die industrielle Nachfrage frisst sich unaufhaltsam in den Bestand hinein, während Recycling an technische Grenzen stößt. Ein Großteil des Silbers, das in Solarzellen, Leiterbahnen oder medizinischen Anwendungen landet, ist ökonomisch verloren. Anders als Gold wird Silber nicht gehortet, sondern tatsächlich verbraucht. Selbst wenn die Minenproduktion leicht wächst, bleibt das strukturelle Defizit bestehen – und jedes Jahr verringert den „Lagerberg“, der bislang noch beruhigend wirkt.
In Summe hat sich die Nachfrageseite von Silber in den letzten 15 Jahren radikal verändert. Aus einem Edelmetall mit zyklischem Investmentcharakter wurde ein industrieller Schlüsselrohstoff, dessen Konsum zu großen Teilen nicht mehr umkehrbar ist. Das erklärt, warum der Markt trotz Rekordproduktion weiterhin angespannt bleibt. Für Anleger bedeutet das: Solange die Energiewende, die Digitalisierung und der Umbau der globalen Infrastruktur an Fahrt gewinnen, dürfte Silber einen wachsenden inneren Wert entwickeln – unabhängig von kurzfristigen Schwankungen des Preises.
Ausblick: Wie schnell kann die Angebotsseite reagieren?
Doch so stark die Nachfrageseite auch ist – die entscheidende Frage nach dem „fairen Preis“ von Silber bzw. nach der zukünftig möglichen Preisdynamik lässt sich erst beantworten, wenn man die Angebotsseite genauer betrachtet: Wer fördert eigentlich das Silber, wie abhängig ist das Angebot von anderen Metallen, wie preissensibel und wie ausbaufähig ist das Angebot und welche Rolle spielt Recycling künftig wirklich? Darum geht es im nächsten Teil dieser Serie.
Zum Autor: Tim Bröning ist Diplom-Ökonom und Betriebswirt und bereits seit über 30 Jahren an der Börse und im Finanzmarkt aktiv. Er arbeitete viele Jahre bei der Siemens AG sowohl im Energiebereich als auch für den Zentralvorstand in der Strategie- sowie M&A-Abteilung, wo er sich früh mit Marktanalysen, strategischer Ausrichtung und Unternehmensbewertung beschäftigte. Die letzten 15 Jahre war er ausschließlich in hohen Führungspositionen im Finanzdienstleistermarkt tätig, wo er sich u.a. auf makroökonomische Fragestellungen, die Fondsanalyse und Fondsauswahl fokussierte. Einer besonderer Fokus gilt seit Jahren dem Rohstoffmarkt. Tim Bröning ist heute selbständig. Mehr unter www.broening-investment.de.
Hier geht es zu Teil 1 der TiAM-Serie zu Silber: „Silber auf Rekordkurs: Anpfiff zur zweiten Halbzeit“
Kommende Woche lesen Sie an gleicher Stelle Teil 3 der TiAM- Serie zu Silber: „Silber am Limit – warum selbst hohe Preise kein neues Angebot schaffen“
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