Beim Vertrieb provisionsfreier Versicherungen werden Kundenrisiken oft nicht klar kommuniziert. Die BaFin spricht von Verschleierung und fordert Konsequenzen.
06.08.2025 | 07:15 Uhr von «Matthias von Arnim»
Versicherungen ohne eingerechnete Provisionen – sogenannte Nettoprodukte – gelten als vermeintlich transparente und faire Alternative zu klassischen Policen mit versteckten Vermittlerentgelten. Als Hauptverkaufsargument für Nettoprodukte gilt deren Transparenz: Während bei Bruttoprodukten die Abschlusskosten bereits in den Beiträgen einkalkuliert sind, vereinbaren Versicherte bei Nettotarifen ein separates Honorar für die Beratung oder Vermittlung, das direkt und zusätzlich zu zahlen ist. Dieses Modell soll eine unabhängige, provisionsfreie Beratung ermöglichen und Interessenkonflikte vermeiden. In der Praxis jedoch – so zeigt eine aktuelle Untersuchung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) – mangelt es gerade beim Vertrieb solcher Produkte häufig an Sachkunde, Kundenschutz und offener Kommunikation.
Hintergrund der BaFin-Untersuchung: Nettopolicen werden in Deutschland nicht nur von registrierten Versicherungsberatern angeboten, die gesetzlich zur Unabhängigkeit verpflichtet sind, sondern zunehmend auch von Versicherungsmaklern. Diese gelten zwar als „Sachwalter des Kunden“, stehen aber häufig wirtschaftlich im Spannungsfeld zwischen verschiedenen Vergütungsmodellen und Produktgebern. Die Rolle der Makler ist deshalb oft ambivalent: Sie verkaufen oft sowohl Brutto- als auch Nettoprodukte, ohne dass für Verbraucher sofort ersichtlich ist, welche Beratung tatsächlich unabhängig und welche Vergütung tatsächlich fair ist. Die neuen Erkenntnisse der BaFin legen nahe, dass genau hier erhebliche Missstände bestehen – mit potenziell weitreichenden Folgen für die Altersvorsorge Zehntausender Verbraucherinnen und Verbraucher.
Die BaFin-Untersuchung dokumentiert gravierende Lücken in der Beratung von Versicherungsanlageprodukten ohne eingerechnete Provision („Nettotarife“). In einer Befragung von 22 (teils auf Nettotarife spezialisierten) Versicherern kam die Aufsicht zu dem nüchternen Befund, dass die Ergebnisse „nicht zufriedenstellend“ sind. Besonders häufig seien Kunden nicht hinreichend informiert. Viele Versicherer schieben die Beratungsverantwortung auf die Vermittler ab, obwohl nach §6 VVG der Versicherer selbst sicherstellen muss, dass die Unterschiede zwischen Brutto- und Nettotarif angemessen erklärt werden. Doch in der Praxis erwähnen Vermittler meist nur die einfach verständliche, unterschiedliche Kostenbelastung. So lassen viele Vermittler laut BaFin oft wichtige Details unerwähnt – zum Beispiel, dass Kunden beim Abschluss einer Nettopolice der gesetzliche Kündigungsschutz (Deckelung der Abschlusskosten in den ersten fünf Jahren) effektiv verwehrt bleibt.
Ein weiterer Mangel liege darin, dass viele Versicherer den Vermittlern ihrer Nettotarife keinerlei Obergrenzen oder Vorgaben für Vermittlerhonorare vorgeben würden. Fehle eine solche Vorgabe – oder wisse der Versicherer gar nicht, welche Vergütung der Makler erhalte – könne er nicht beurteilen, ob der Kunde durch das Produkt wirklich profitiert. Laut BaFin wird dadurch der gesetzlich geforderte „Kundennutzen“ nach §§23 VAG unklar, weil sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis eines Nettotarifs bei unbekannten Honoraren nicht bewerten lässt. Das Problem: Teilweise kennen die Lebensversicherer sogar die tatsächlichen Vertriebskosten ihrer Produkte nicht: In der Befragung wussten viele Gesellschaften nicht, ob und in welcher Höhe ihre Vermittler Rückvergütungen von Fonds erhalten – nur vier von 22 Unternehmen bestätigten, dass überhaupt keine Kickbacks fließen.
Gerade bei fondsgebundenen Policen sind diese Rückvergütungen problematisch. Sie stellen einen Fehlanreiz dar, weil Vermittler dann womöglich nicht das geeignete Produkt für den Kunden wählen, sondern das mit der höchsten Rückvergütung. Experten kritisieren die Praxis scharf und fordern zum Teil ein ausdrückliches gesetzliches Verbot von Kickback-Entgelten im Fonds- und Versicherungsvertrieb. Verbraucherschützer weisen seit Jahren auf das Problem hin – bereits 2016 forderte der Verbraucherzentrale Bundesverband ein Provisionsverbot zum Schutz der Kunden, insbesondere in der privaten Altersvorsorge.
Angesichts dieser Defizite betont die BaFin, dass nicht nur die Vermittler, sondern auch die Versicherer in der Pflicht stehen. Vermittler müssen die Besonderheiten von Nettotarifen kompetent erklären. Gleichzeitig müssen Versicherer sicherstellen, dass sämtliche Kosten (einschließlich Honorare oder Kostenausgleiche) transparent erfasst und in die Produktbetrachtung einbezogen werden. Nur so lasse sich laut BaFin der Kundennutzen überprüfen. Die Aufsicht kündigt an, die Erkenntnisse in ihre künftige Praxis einfließen zu lassen – bei Wohlverhaltensprüfungen wird man nun gezielt etwa die Einhaltung der Kundeninformationspflichten prüfen. In einem Fall führte das bereits dazu, dass ein Nettotarif vom Markt genommen wurde.
Fachleute und Verbraucherschützer diskutieren schon länger über eine stärkere Regulierung und Transparenz. So fordern viele unter anderem eine verbesserte Ausbildung und Weiterbildung von Vermittlern, damit diese die rechtlichen Vorgaben (§§34d, IDD etc.) und Besonderheiten von Nettotarifen beherrschen. Ebenfalls in der Diskussion ist, die Beratungsdokumentation für solche Produkte zu verschärfen und standardisierte Kostentransparenzblätter einzuführen. Auch Offenlegungspflichten könnten verschärft werden: Vermittler sollten dem Kunden künftig konkret darlegen, welche Entgelte sie für den Vertrag erhalten und inwieweit Rückvergütungen fließen. Gesetzgeber und Aufsicht könnten zudem Honorarobergrenzen oder gar eine Deckelung der Abschlusskosten nach Schweizer Vorbild einführen. Tatsächlich hat das Bundesfinanzministerium bereits 2021 geprüft, ob und inwieweit solch ein Provisionsdeckel in der Lebensversicherung hierzulande umsetzbar wäre. Eine weitere Idee ist die Schaffung eines „Honorarberatungsgesetzes“, das – analog zu Rechtsanwälten – eine klare Honorarordnung für Versicherungsvermittler etabliert. Über die konkrete Ausgestaltung solch eines Gesetzes wird bereits heftig diskutiert. So spricht sich der Branchenverband GDV etwa dafür aus, den Kunden weiterhin auch eine provisionsbasierte Beratung ohne Honorarpflicht zu erlauben. Kritiker sehen jedoch Provisionsvergütung und Honorarpflicht als Widerspruch. Ein Honorarberatungsgesetz müsse Klarheit und Trennschärfe haben, um Anlegern tatsächlich einen Mehrwert zu bieten.
Fazit: Dass alternative Vergütungsmodelle begrüßt werden, zeigt auch die Marktreaktion. Schon heute bieten etwa die Hälfte der Marktführer Nettotarife an, und Umfragen deuten auf gestiegenes Interesse der Kunden hin. Die Branche sollte sich jedoch nicht auf den Erfolgen ausruhen. Die Abschaffung von Provisions- zugunsten der Honorarberatung ist seit Jahren Thema politischer Diskussionen. Die BaFin-Untersuchung zum Thema Nettotarife bietet nun erneut Anlass, um diesen Tagesordnungspunkt auf den Tisch zu bringen. Die Branche ist jetzt gefragt, eigeninitiativ Lösungsansätze zu liefern, um den Forderungen nach mehr Regulierung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Mit der konsequenten Einhaltung der Wohlverhaltenspflichten, internen Kontrollen sowie offener Kommunikation im Beratungsgespräch etwa könnten die Versprechen kostengünstiger Nettotarife tatsächlich eingelöst und das Vertrauen der Verbraucher gestärkt werden.
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