Viele Anleger reiben sich verwundert die Augen. Zum ersten Mal seit dem 26. Februar notiert der DAX heute wieder über der 200-Tage-Linie. Es bleibt die Frage, ob die Aktienmärkte bereits eine wirtschaftliche Erholung vorwegnehmen oder sich der Anstieg als Bullenfalle erweist.
03.06.2020 | 15:00 Uhr von «Christian Bayer»
Christopher Smart, Chefstratege und Leiter des Barings Investment Institute,
erwartet im laufenden Monat wichtige Indikatoren, ob die durch die
Corona-Pandemie infizierte Weltwirtschaft zu einer deutlichen Erholung ansetzt
oder ob sich Anleger auf eine harte Rezession einstellen müssen. „Da ein
Großteil der Angebotsseite rasch wieder in Betrieb genommen wird, stehen die
größten Fragen im Zusammenhang damit, wie schnell die Nachfrage zurückkehren
wird. Die wahrscheinlichsten Antworten werden ein sehr differenziertes Bild
über Regionen, Branchen und Unternehmen hinweg zeichnen“, so der Experte. Aus
Sicht des Kapitalmarkt-Strategen sind aktuell die Aussichten in Asien deutlich
besser als in Europa und in den USA. Unter den Sektoren seien die Gesundheits-
und Technologiebranche besser aufgestellt als der Einzelhandel und der
Freizeitsektor. „Der Juni wird diese Erwartungen bestätigen – oder enttäuschen.
Wir sollten nicht überrascht sein, überrascht zu werden“, so Smart. Ein
wesentlicher Faktor bei der Beurteilung der Lage ist aus Sicht des Strategen
der Verlauf einer möglichen zweiten Infektionswelle. „Einerseits könnte eine
Lockerung der staatlichen Bewegungsbeschränkungen zu vereinzelten, aber
überschaubaren Ausbrüchen führen. Stark steigende Fallzahlen könnten
andererseits den frühen Optimismus, der bereits tief in den Finanzmärkten
verwurzelt ist, erschüttern“, so Smart. Die positive Entwicklung risikobehafteter
Assets in den vergangenen Tagen strahlt aus Sicht des Experten die Zuversicht
aus, dass sich die globale Wirtschaft vor dem Hintergrund der großen
Geldmengen, die Regierungen und Zentralbanken zur Verfügung stellen, erholt.
Alexis Bienvenu, Fondsmanager bei LFDE - La Financière de l’Échiquier,
beurteilt die Lage pessimistischer. Aus seiner Sicht können angesichts der
schlechten realwirtschaftlichen Lage die aufgelegten Konjunkturpakete die
Märkte auf lange Sicht nicht tragen. In diesem Zusammenhang verweist er auf
Japan. In dem Land seien die geld- und haushaltspolitischen Anreize in der
vergangenen Woche nochmals um fast eine Billion US-Dollar erhöht worden, ohne
dass japanische Aktien eine deutliche Outperformance gezeigt hätten. Bienvenu
gibt zu bedenken, dass die US-amerikanische Notenbank Fed ihre Bilanz binnen
weniger Wochen so stark ausgeweitet hat, dass das Volumen der Maßnahmen mittlerweile
die Pakete zur Bekämpfung der Finanzkrise übersteigt. „Und auch die Europäische
Union entscheidet in Kürze über ein bisher beispielloses Hilfspaket in Höhe von
750 Milliarden Euro, das erstmalig durch die Ausgabe von gemeinsam begebenen
Schuldscheinen finanziert werden soll“, so Bienvenu. Der Experte geht
allerdings davon aus, dass die astronomisch hohen Summen, die zur Bekämpfung
der Krise aufgewendet werden, nur eine flüchtige Wirkung auf die Märkte haben
werden. Denn viele Probleme in Europa sind aus Sicht des Fondsmanagers weiter
ungelöst. So sei beispielsweise die Eurozone immer noch keine wirkliche
haushaltspolitische Einheit. „Anleger sollten sich daher nicht zu früh von der
aktuell wiederhergestellten Harmonie in Europa blenden lassen“, so der Bienvenu.
Die Strategen von Columbia Threadneedle Investments gehen davon aus, dass die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie länger andauern werden als derzeit von vielen angenommen wird. Zudem würden Unternehmen mit höheren Schulden und schlechteren Bilanzen aus der Krise kommen. Vor diesem Hintergrund bevorzugen die Strategen von Columbia Threadneedle in den Multi Asset-Portfolios sowohl bei Unternehmensanleihen als auch bei Aktien Firmen mit höherer Qualität. Zudem sind sie bestrebt, die Konjunkturanfälligkeit des Portfolios zu reduzieren. „Hierzu verringerten wir insbesondere unsere Positionen in britischen und japanischen Aktien zugunsten von US-Titeln,“ so die Multi-Asset-Portfoliomanagerin Maya Bhandari. Nach Ansicht der Columbia Threadneedle-Experten dürften sich die USA rascher von der Corona-Krise erholen als Europa oder Japan. Für die USA erwartet die Fondsgesellschaft eine U-förmige Erholung, die dazu führt, dass bereits Ende des kommenden Jahres das Niveau der Wirtschaftsleistung des vierten Quartals 2019 erreicht wird. In Europa und Japan erwarten die Strategen erst nach Ende 2022 ein Niveau des Bruttoinlandsprodukts wie vor der Krise.
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