Über eine Woche ist vergangen und die Wogen haben sich noch lange nicht geglättet. Auf ukrainischem Boden wütet weiter der Konflikt, die Hauptstadt Kiew ist immer noch Schauplatz zahlreicher Gefechte und Russland scheint nicht gewillt zu sein, den Druck zu verringern.
08.03.2022 | 09:00 Uhr
Im Moment lässt sich nur sehr schwer abschätzen, was in den
kommenden Wochen geschehen wird. Das Spektrum der denkbaren Szenarien reicht
von einer schnellen Deeskalation im Falle einer Waffenruhe, die offensichtlich
ein Thema der nächsten Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine sein
soll, über eine dauerhaft festgefahrene Situation bis hin zu einer
Intensivierung des Konflikts. Man kann daher nur versuchen, Prognosen zu den
wirtschaftlichen Auswirkungen dieser dramatischen Ereignisse anzustellen – dies
allerdings mit Vorbehalt.
Einige Dinge sind jedoch klar. Es steht beispielsweise fest, dass diese
Situation – vor allem aufgrund des rasanten Anstiegs der Rohstoffpreise – nicht
spurlos am Wachstum der Weltwirtschaft und an der Inflation vorübergehen wird.
Ersteres wird zurückgehen, Letztere wird steigen. In welchem Ausmaß das der
Fall sein wird, lässt sich nur schwer beziffern. Das britische National
Institute of Economic & Social Research rechnet beispielsweise für dieses
Jahr mit einem potenziellen Rückgang des weltweiten BIP um einen Prozentpunkt
und einem Anstieg der Inflation um 3 %. Wenngleich der Anstieg des Ölpreises,
der am Donnerstag nur knapp die 120-USD-Marke pro Barrel verfehlte, alle
Regionen treffen wird, dürfte Europa wirtschaftlich wohl am stärksten unter den
Folgen des Konflikts zu leiden haben. Denn die Europäische Union ist besonders
abhängig von Primärenergieträgern aus Russland. Importe von russischem Rohöl
machen mehr als 25 % des Bedarfs der EU aus, bei Gas sind es über 45 %, und
auch die Kohleimporte sind erheblich. Doch die aktuelle Situation bremst die
Lieferungen. Und durch eine Eskalation der Sanktionen könnte die EU gezwungen
sein, auf alle oder einen Teil der russischen Lieferungen zu verzichten. Dies
könnte zu einer Explosion der Energiekosten bei einem gleichzeitigen Rückgang
der Produktion in vielen Sektoren führen – die ohnehin schon mit
Versorgungsengpässen bei anderen Rohstoffen zu kämpfen haben (vor allem bei
Agrarerzeugnissen und Metallen).
Welche Reaktion ist von den Zentralbanken zu erwarten? Für die Europäische
Zentralbank stellt sich die Situation vielleicht weniger komplex dar. Bei einer
gegenüber den USA deutlich niedrigeren Kerninflation in der Eurozone verfügte
die EZB bereits über größeren Handlungsspielraum als die amerikanische
Notenbank Fed. Sie dürfte sich kaum zu schnellem Handeln veranlasst sehen, wenn
die Konjunktur einen Dämpfer erhielte und die Energiepreise rasant steigen
würden, was sich letztendlich negativ auf die Kaufkraft der privaten Haushalte
und damit auf den Konsum auswirken würde. Sie hat ihre Lehren aus den Fehlern
von 2008 und 2011 gezogen, als sie allein aufgrund der Energieinflation bei
gemäßigter Kerninflation und instabiler Konjunktur den Leitzins erhöhte. Daher
dürfte sie ihre Pläne für eine geldpolitische Straffung gewiss aufschieben. Auf
die Fed treffen diese Überlegungen nicht zu. Die Auswirkungen auf die
amerikanische Wirtschaft werden deutlich moderater ausfallen. Der Anstieg der
Energiepreise wird die ohnehin bereits äußerst hohe und sich vor allem über
alle Sektoren erstreckende Inflation weiter nach oben treiben. Der Fed bleibt
also nichts anderes übrig, als ihre zügige geldpolitische Straffung mit einer
ersten Zinserhöhung noch in diesem Monat und einer Reduzierung ihrer Bilanz bis
zum Sommer weiter fortzusetzen.
Was bedeutet dies für die Märkte? Auf sie könnte somit eine Situation zukommen,
in der die USA mit einer drastischen geldpolitischen Straffung konfrontiert
sind und Europa in ein Wachstumsloch fällt. Das sind Aussichten, die wenig Mut
machen, aber eine etwas differenziertere Betrachtung verdienen. Auf vielen
Märkten haben die Bewertungen seit ihren Hochs im Sommer 2021 bereits eine
deutliche Korrektur erfahren. So liegt beispielsweise in Europa das
Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) des EUROSTOXX 50 heute 8 % unter seinem Median
über 15 Jahre, während es im vergangenen Sommer 26 % darüber lag. Mit anderen
Worten: Ein großer Teil des Weges könnte bereits hinter uns liegen. (dp)
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