Carmignac: Wie sich die Aktienmärkte zunehmend an die geringeren Wachstumsaussichten anpassen

Carmignac: Wie sich die Aktienmärkte zunehmend an die geringeren Wachstumsaussichten anpassen
Marktkommentar

Einige Experten scheinen überrascht zu sein, wie robust sich die Aktienmärkte angesichts der Bedrohung des Wirtschaftswachstums durch den Ausbruch des Coronavirus zeigen. Um dieses scheinbare Paradoxon zu erklären, bietet sich ein kurzer Überblick über das allgemeine Investitionsumfeld an.

26.02.2020 | 10:14 Uhr

Didier Saint-Georges

Didier Saint-Georges, Mitglied des strategischen Investmentkomitees bei Carmignac

Es ist heute allgemein bekannt, dass die Politik der Zentralbanken zur Bekämpfung der Deflationsgefahr seit der Finanzkrise von 2008 zwar nur geringe Auswirkungen auf die BIP-Wachstumsraten hatte, dem Aktienmarkt aber einen historisch einmaligen Auftrieb beschert hat. Egal, ob Sie es als „finanzielle Repression“ ablehnen, wie es viele in Europa tun, oder ob Sie den eher fachsprachlich gebräuchlichen Begriff „quantitative Lockerung“ verwenden, die beispiellose Intervention der Zentralbanken über mehr als ein Jahrzehnt hat die Finanzierungskosten für die Privatwirtschaft sicherlich gesenkt. Aber die bloße geldpolitische Belebung hat sich aufgrund der unzureichenden Nachfrage als unfähig erwiesen, die Investitionstätigkeit anzukurbeln. Und wie jeder weiß, bedeutet keine Investition kein Wachstum.

Da diese Politik jedoch die Renditen der am wenigsten risikoreichen, festverzinslichen Wertpapiere unerbittlich nach unten treibt, hat diese die Anleger zum Kauf risikoreicherer Anlagen, vor allem Aktien und Unternehmensanleihen, ermutigt. Das Ergebnis war ein recht ungesunder Kreislauf: Das anhaltende Unvermögen der Zentralbanken, den Abwärtstrend des BIP-Wachstums und der Inflation einzudämmen, hat sie dazu bewogen, an einer unkonventionellen Geldpolitik festzuhalten – was wiederum die Börse in Schwung gehalten hat.

Noch schlimmer ist, dass die entwickelten Volkswirtschaften so „finanzialisiert“ geworden sind, dass sie nun an steigende Finanzmärkte gefesselt sind. Das erklärt, warum die Zentralbanker so wenig Bedenken haben, diesen Märkten unter die Arme zu greifen. Den Anlegern wurde damit suggeriert, wirtschaftliche Rückschläge jeder Art in Kauf zu nehmen. Der wirtschaftliche Schaden, der durch die drastische Reaktion in China und anderswo auf die drohende Ausbreitung des Coronavirus verursacht wurde, ist nur das jüngste Beispiel.

Ein genauerer Blick auf den allgemeinen Stand der Dinge kann zusätzliche Erkenntnisse über das aktuelle Marktverhalten liefern

Die zunehmende Diskrepanz zwischen der wirtschaftlichen Realität und den Auswirkungen der Zentralbankpolitik auf die Finanzmärkte hat schwerwiegende soziale und politische Auswirkungen gehabt. In einem Fall sind sie so gut wie unbestreitbar. Die Vergrößerung des Wohlstandsgefälles im letzten Jahrzehnt zwischen denen, die über Finanzanlagen verfügen, und denjenigen, die diese nicht haben, hat zunehmend eine gewisse Rebellion geschürt, die in einigen Ländern unerwartete Formen angenommen hat.

Hätte zum Beispiel Donald Trump die Wahl 2016 gewonnen, wenn er den Arbeitern im Mittleren Westen keine höheren Einkommen versprochen hätte? Hätte eine Mehrheit der Briten fünf Monate früher für den Brexit gestimmt, wenn die EU-Wirtschaft stärkere Wachstumsraten verzeichnet hätte?

Führt man diese beiden Beispiele weiter, so zeigt sich, dass weder Donald Trump noch Boris Johnson in der derzeitigen Lage die Macht haben, den unaufhaltsamen Abwärtstrend des globalen Wirtschaftswachstums zu stoppen. Man kann die Investitionsausgaben nicht zehn Jahre lang auf breiter Basis kürzen, ohne den Preis dafür zu bezahlen.

Die Trump-Regierung ist sich dessen wohl bewusst und hat ihre Wirtschaftspolitik entsprechend gestaltet. Dabei betrachtet sie die Weltwirtschaft als einen schrumpfenden Kuchen und hat ihre Position der Stärke offen ausgenutzt, um einen wachsenden Anteil des Kuchens auf Kosten der Handelspartner des Landes zu erobern. Dabei handelt es sich um unverhohlenen Protektionismus oder, genauer gesagt, um Merkantilismus. Merkantilisten lehnen die Idee ab, dass der Freihandel für alle von Vorteil sein kann, und betrachten die Weltwirtschaft als ein Nullsummenspiel. Es geht nur darum, zu den Gewinnern zu gehören. Nur hatte die im Europa des achtzehnten Jahrhunderts entstandene merkantilistische Philosophie eine wenig überzeugende Erfolgsbilanz.

Die konkurrierende nationalistische Politik, die von solchem Denken inspiriert ist, bringt auf lange Sicht nur Verlierer hervor. Man könnte auch hinzufügen, dass diese Politik auch zu großen Spannungen zwischen Ländern führen kann, die in nicht enden wollende Handelskriege verwickelt sind. Aber auf kurze Sicht sind entsprechende Maßnahmen bei den Wählern recht beliebt, die annehmen, dass sie auf der Gewinnerseite landen werden. Man kann im Übrigen davon ausgehen, dass Boris Johnsons Haltung gegenüber der EU am Verhandlungstisch im Jahr 2020 auf einer Überschätzung der Stärke der britischen Wirtschaft beruhen könnte.

Auch wenn die Aktienmärkte insgesamt heutzutage von einer äußerst unterstützenden Geldpolitik praktisch gesponsert werden, leuchtet es ein, warum der US-Markt am ehesten die Nase vorn haben wird. Die anhaltende Großzügigkeit der Zentralbanken hat eine US-amerikanische Wirtschaft angekurbelt, die bereits zuvor kräftiger war als die ihrer Rivalen. Es bedeutet auch, dass die Regierung keine Schwierigkeiten hat, ein Haushaltsdefizit zu finanzieren, das derzeit fast 5 Prozent des BIP ausmacht. Nicht zuletzt hat die Handelspolitik von Trump ausländisches Kapital leichter in die USA gelockt als anderswo.

Es ist auch leicht nachzuvollziehen, warum Wachstumstitel, die gegen das düstere Weltwirtschaftsklima weitgehend immun sind, immer noch hoch im Kurs stehen und warum die Anleger den Greenback auch bei steigenden US-Defiziten weiterhin bevorzugen. Und nun verlagert der Ausbruch des Coronavirus in China – wobei Asien die Hauptlast der wirtschaftlichen Kosten trägt – noch mehr Kapital in sichere Anlagen in den Vereinigten Staaten und stärkt die US-Wirtschaft weiter.

Eines Tages werden die Sorgen der Zentralbanker vielleicht wieder groß genug sein, um sich Gedanken über Maßnahmen zur Eindämmung der Geldschwemme zu machen, wie 2018 geschehen. Und eines Tages werden die Anleger sicher allmählich daran zweifeln, dass eine durch eine ständig steigende Geldmenge angeheizte Aktienhausse – bei gleichzeitiger Aussicht auf ein schrumpfendes Weltwirtschaftswachstum – unbegrenzt weitergehen kann. Aber bis dahin – niemand kann vorhersagen, wann dies der Fall sein wird - sind die Anleger gut beraten, sicherzustellen, dass die Unternehmen, deren Aktien sie halten oder zu kaufen beabsichtigen, die Fähigkeit zur Erzielung von Gewinnen unter Beweis gestellt haben.

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