Pictet AM: Geht KI die Puste aus?

Pictet AM: Geht KI die Puste aus?
Künstliche Intelligenz

Die Forschung rund um künstliche Intelligenz scheint den Patentdaten zufolge ins Stocken geraten zu sein. Das könnte daran liegen, dass der Grossteil der Forschungsarbeit vom privaten Sektor gefördert wird und sich dadurch der Fokus der Forschung verengt.

24.11.2022 | 06:54 Uhr

KI boomt, da die jahrzehntelange Forschung nun endlich Früchte trägt – in Form von neuartigen Tools und Modellen, die von der Intelligenz her immer menschenähnlicher werden, wenn sie es nicht schon sind.

Von den Errungenschaften von DeepMind, wie dem Gameplaying und der prädiktiven Modellierung der Proteinfaltung, die für Wissenschaftler jahrzehntelang ein Rätsel war, bis hin zur menschenähnlichen Sprache von GPT-3, dem neuesten Produkt der „Deep Learning“-Revolution, die den menschlichen Neocortex nachbildet – die KI scheint sich ihrem Zenit zu nähern.1

Aber ist das wirklich ein goldenes Zeitalter? In der Vergangenheit wurde das Gebiet viel zu sehr gehypt. In den 1960er-Jahren prognostizierte Herbert Simon, dass Computer in der Lage sein würden, dem Menschen in den nächsten 20 Jahren Konkurrenz zu machen. Marvin Minsky, ein Gründervater der Informatik, sagte vorher, dass das Problem der Schaffung von künstlicher Intelligenz in einer Generation gelöst werden würde. Weder die eine noch die andere Prognose hat sich bislang bewahrheitet.

Economist Impact hat die Geschichte und das Innovationstempo in wichtigen technologischen Sektoren analysiert. Mit Hilfe von Data-Science-Tools haben wir einen einzigartigen Ansatz zur Messung der Innovationsaktivität entwickelt, der auf einer Analyse der in wissenschaftlichen Publikationen und Patenten verwendeten Sprache basiert.2

Aus Winter wird Sommer

Unsere Analyse der KI deutet auf einen Innovationsschub in den frühen 1980er-Jahren hin, der in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts deutlich an Dynamik verloren hat. Das ist der zweite sogenannte „KI-Winter“, der sich auf Zeiträume bezieht, in denen das Gebiet kaum Ergebnisse vorweisen konnte und in der Folge die Finanzierung und Forschung gebremst wurden. Aber so ganz karg waren diese Winter nicht. Unser Modell zeigt, dass Schlüsselkonzepten wie neuronalen Netzen und Deep Learning auch in mageren Zeiten recht viel Aufmerksamkeit zuteil wurde und dadurch der Grundstein für Durchbrüche gelegt wurde, wie wir sie heute erleben. (Zwischen KI-Konzepten und den entsprechenden Tools und Technologien können lange Zeiträume liegen; das erste „künstliche Neuron“ wurde 1943 entwickelt.3)

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Es wird eng

Unsere Analysen haben ergeben, dass die Themenvielfalt in der wissenschaftlichen Literatur ab etwa 2006 insgesamt abnimmt und den niedrigsten Stand des gesamten Zeitraums in den letzten Jahren der Messung erreicht hat. Positiv zu bewerten ist, dass die thematische Vielfalt in Patenten in dieser Zeit zugenommen hat.

Das deckt sich mit anderen Belegen, die darauf hindeuten, dass sich das Gebiet auf eine Untergruppe von Themen konzentriert und möglicherweise eine grössere Forschungstiefe gegen Breite, Risiko und Innovation für die Zwecke der Kommerzialisierung eingetauscht wurde.

Juan Mateos-Garcia, Director of Data Analytics bei Nesta, hat im Rahmen einer Studie die thematische Vielfalt in der KI-Forschung untersucht. Die Ergebnisse, die auf einer Stichprobe von 110.000 KI-Publikationen basieren, wurden einer Themenmodellierung unterzogen, um die thematische Zusammensetzung der KI-Forschung zu quantifizieren und die Forschungsvielfalt einzuschätzen. Das Team fand heraus, dass die thematische Vielfalt in den letzten zehn Jahren zurückgegangen ist, genau wie sich KI in der realen Welt anscheinend rar gemacht hat. „Man hätte erwartet, dass die zunehmende Grösse des KI-Marktes der Vielfalt zuträglich ist, aber unsere früheren Hypothesen [vor unserer Studie], dass die Vielfalt stagniert, erwiesen sich nach wie vor als zutreffend, trotz der Ausweitung des Gebiets“, sagt Mateos-Garcia.

Einer der Gründe sei, dass der private Sektor der dominierende Akteur bei der Finanzierung und Durchführung von KI-Forschung ist und sich Unternehmen auf ein kleineres Spektrum geschäftsrelevanter Anwendungen konzentrieren. „Die Player aus der Industrie haben eine eher kurzsichtige, enge technologische Fokussierung, aber bei Innovation ist es so, dass man sich nicht sicher sein kann, ob etwas funktionieren und Erfolg haben wird.“

Verkümmert das Gebiet in der Lehre?

Mateos-Garcia sagt, dass sich bei den Universitäten der Fokus verenge, was zum Teil auf die wachsende Beteiligung der Industrie zurückzuführen sei. Das ist besorgniserregend, da akademische Einrichtungen in der Vergangenheit der Nährboden für Durchbrüche in der KI waren, von der wegweisenden Summer School des Dartmouth College im Jahr 1956 (sozusagen der attestierte Beginn der KI-Ära) bis hin zu den Arbeitsprogrammen des Stanford AI-Projekts und des MIT AI Lab. Wichtige Innovationen, die die KI heute vorantreiben, wie neuronale Netze und Deep Learning, haben ihre Wurzeln in akademischen Kreisen.

Die Kommerzialisierung ist natürlich wichtig, um kontinuierliche Investitionen in KI sicherzustellen, damit reale Probleme gelöst werden können, aber der aktuelle Trend in Richtung eines engeren Fokus bringt auch Probleme mit sich.

Mateos-Garcia äussert sich besorgt darüber, dass KI-Innovation sich nicht nur verengt, sondern dass es dem Gebiet insgesamt nicht gelingt, in Bereichen innovativ zu sein, in denen es am nötigsten ist. „Wir haben erstaunliche Fortschritte in der Werbung und den Social Media und in gewissem Masse bei wissenschaftlichen Entdeckungen gemacht, zuletzt mit AlphaFold, aber bei vielen der grössten sozialen Herausforderungen wie Bildung, Gesundheit, Umwelt und auch Covid-19, hat uns die KI da wirklich geholfen? Es gibt nur sehr wenige Hinweise auf einen positiven Effekt.“

Andere führende KI-Forscher haben sich ebenfalls besorgt darüber geäussert, dass das Gebiet stagniert, auf einem Plateau verharrt. Bei eng gefassten Aufgaben mögen die Fähigkeiten herausragend sein, aber es gibt kaum Anzeichen einer Annäherung an die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, die den menschlichen Geist ausmacht.4

Frischer Wind aus Fernost

Ein letzter Trend, der sich von unserem Modell ablesen lässt, ist die ausgeprägte Verlagerung der KI-Innovation von Nordamerika und Europa – wo sie in den 1960er- und 1970er Jahren dominierte – nach Ostasien, insbesondere Japan und China. Der globale Anteil der KI-Forschung aus China stieg von 4% im Jahr 1997 auf 28% in 2017, das ist der grösste Länderanteil überhaupt.5

Der Trend unterstützt zum Teil die breitere Verlagerung hin zu kommerziellen und praxisnahen Anwendungen statt zur Grundlagenforschung. Im März 2019 lag die Anzahl chinesischer KI-Firmen bei 1.189, gleich hinter den USA mit über 2.000 Unternehmen. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Sprach- und Bilderkennung, die sich in Bereichen wie Einzelhandel, Fintech, Transport und Entertainment einsetzen lässt. Führende chinesische Unternehmen haben einen Vorteil gegenüber westlichen Firmen, weil KI grösstenteils auf riesigen Datenbeständen beruht, die eine fortlaufende Verfeinerung und Neukalibrierung ermöglichen – diese Daten kann China mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern problemlos bereitstellen. Wir haben es hier allerdings mit der Kategorie der sogenannten „schwachen KI“ zu tun, die sich auf die Lösung eng definierter Probleme konzentriert.6

KI steht, wie die Wissenschaften, denen sie zugeordnet ist, in einem ständigen Spannungsverhältnis zwischen grundlegenden Innovationen in den fundamentalen Konzepten und Modellen, oder „Paradigmen“, und dem, was der Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn als „Normalwissenschaft“ bezeichnete, bei der Forscher in einem gemeinsam vereinbarten Rahmen tüfteln. Die Kommerzialisierung von KI zur Lösung realer Probleme ist angesichts der langen Winter-Phasen auf dem Gebiet in gewisser Weise als Erfolg zu werten. Aber wie unser Modell zeigt, kann der Winter mitunter auch eine produktive Phase der Reflexion und des Experimentierens sein.

Die Zukunft hält sicherlich Überraschungen bereit – einige Vorhersagen (sowohl positive als auch dystopische) werden nicht eintreffen, dafür wird es Anwendungen und Einsatzbereiche geben, die wir nicht auf dem Radar haben. Die Aussage, dass KI und Automatisierung zu Massenarbeitslosigkeit führen werden, ist pauschal nicht haltbar und muss differenziert nach dem tatsächlichen Einsatz in der realen Welt bewertet werden, nämlich dass die Fähigkeiten des Menschen erweitert werden, indem die KI Routineaufgaben erledigt und sich der Mensch dadurch auf die Weiterentwicklung seiner Kompetenzen und die Lösung komplexer Probleme konzentrieren kann. Gleichzeitig können Fehler und unbewusste Beeinflussungen korrigiert werden, die sich sonst vielleicht auf die Leistung auswirken würden.7 Der Mensch hat immer das letzte Wort, daher werden neue Kompetenzbereiche entstehen, die auf ethische und verantwortungsvolle KI ausgerichtet sind. Das wiederum wird mit der Zeit zu neuen Forschungsagendas führen, die die nächste Generation von KI-Innovationen bestimmen.


[1] https://arxiv.org/pdf/2205.03401.pdf

[2] Unser Modell zeigt auch die Dynamik ab 2010 (siehe Abbildung 2 unten), einschliesslich grundlegender Konzepte, die modernen Anwendungen wie Generative Adversarial Networks (GAN) und Zero-Shot-Learning zugrunde liegen. Beides ist der Schlüssel zur Klassifizierung von Bildern und Daten, und darin ist die KI unübertroffen. Ein grosser Fortschritt war 2012 AlexNet, eine revolutionäre neuronale Netzarchitektur, die andere Modelle bei der Bilderkennung in den Schatten stellte und als eine der einflussreichsten Beiträge im Bereich Computer Vision gilt. Der einflussreiche KI-Wissenschaftler Yann LeCun bezeichnete GANs als die „interessanteste Idee [im Bereich des maschinellen Lernens] seit einem Jahrzehnt“

[3] https://towardsdatascience.com/mcculloch-pitts-model-5fdf65ac5dd1

[4] https://www.bbc.co.uk/news/technology-51064369

[5] https://hbr.org/2021/02/is-china-emerging-as-the-global-leader-in-ai

[6] https://hbr.org/2021/02/is-china-emerging-as-the-global-leader-in-ai

[7] https://www.raconteur.net/technology/artificial-intelligence/ai-human-augmentation/

Über Economist Impact

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