Capital Group: Drei Gründe, die für eine längerfristig höhere Inflation sprechen

Capital Group: Drei Gründe, die für eine längerfristig höhere Inflation sprechen
Kommentar

An den Finanzmärkten herrscht die Überzeugung vor, dass die Gesamtinflationsraten in den nächsten zwei Jahren deutlich in Richtung der Zielvorgaben der Zentralbanken sinken werden und die Inflationserwartungen mittel- bis längerfristig stabil bleiben.

13.06.2023 | 10:10 Uhr

Dabei könnte es sich jedoch um eine Fehleinschätzung handeln, so Robert Lind, Ökonom bei Capital Group. Drei Gründe sprechen aus seiner Sicht für eine längerfristig höhere Inflation, die auch von den Zentralbanken zugelassen werden wird.

„Viele Ökonomen und Anleger scheinen nach wie vor davon überzeugt zu sein, dass sich die Inflationsraten wieder auf die Ziele der Zentralbanken zubewegen. Fünfjährige Forward Inflation Swaps zum Beispiel preisen eine Verbraucherpreisindex-Inflation von rund 2,5 % sowohl in den USA als auch in der Eurozone ein“, sagt Lind. „Dabei unterschätzen die Märkte jedoch, dass wir uns im Übergang zu einer Phase längerfristig höherer Inflation befinden könnten. Drei Faktoren dürften die Inflation langfristig auf hohem Niveau halten und die Zentralbanken zwingen, höhere Inflationsraten zu akzeptieren.“

Grund Nr. 1: Strukturell lockerere Finanzpolitik

Angesichts der Pandemie und des damit verbundenen plötzlichen Einbruchs der Wirtschaftstätigkeit hätten Regierungen massive fiskalische Stützungspakete geschnürt. „Diese Flut staatlicher Gelder verhinderte einen Zusammenbruch der Wirtschaftstätigkeit und förderte einen kräftigen Aufschwung“, erklärt Lind. Auch der Krieg in der Ukraine und der daraus resultierende Energieschock hätten in der Europäischen Union (EU) eine erhebliche zusätzliche steuerliche Unterstützung nötig gemacht, vor allem auf nationaler Ebene.

„Nun scheinen sich die Regierungen zwar darauf vorzubereiten, die Nothilfemaßnahmen, die Verbraucher und Unternehmen vor dem Energieschock bewahrt haben, auslaufen zu lassen, was zum Abbau der Haushaltsdefizite beitragen würde“, so Lind. „In den europäischen Volkswirtschaften besteht jedoch weiterhin Druck, die öffentlichen Ausgaben für die Energieinfrastruktur und andere Bereiche wie Verteidigung, Gesundheit und Bildung deutlich zu erhöhen.“ Auch in Deutschland, Italien und Großbritannien bestehe die Notwendigkeit, die öffentlichen Investitionen nach einem Jahrzehnt starker Kürzungen zu erhöhen. „Das politische Umfeld in diesen Ländern wird es den Regierungen jedoch schwer machen, die Steuern zu erhöhen, um höhere öffentliche Ausgaben zu finanzieren“, führt Lind aus. „Da die Finanzpolitik mittelfristig lockerer bleibt, werden die Regierungen unvermeidlich strukturell größere Haushaltsdefizite aufweisen und höhere Schuldenquoten tolerieren.“

Grund Nr. 2: Größere Verhandlungsmacht für Arbeitnehmer

Dass Arbeitnehmer und Unternehmen bei der Festlegung der relativen Preise und Löhne in Konflikt geraten könnten, dürfte ebenfalls zu einer anhaltend höheren Inflation beitragen. „In den letzten drei Jahren haben Arbeitnehmer erhebliche Reallohnverluste hinnehmen müssen, da der Nominallohnanstieg nicht mit der Veränderung des Verbraucherpreisindexes Schritt gehalten hat“, sagt Lind. Im Gegensatz dazu hätten viele Unternehmen ihre Preise erfolgreich erhöht, um ihre Gewinnspannen angesichts des Kostenschocks zu verteidigen. Dies habe die Aufmerksamkeit der politischen Entscheidungsträger auf sich gezogen, die befürchten, dass die Unternehmen die Last des Reallohndrucks auf die Arbeitnehmer abwälzen könnten. Es gebe jedoch weiterhin Anzeichen dafür (z. B. die Zahl der offenen Stellen im Verhältnis zur Arbeitslosenquote), dass die Arbeitsmärkte extrem angespannt seien. „Arbeitnehmer werden nun höhere Löhne fordern, um die Reallohneinbußen auszugleichen, und in einigen großen europäischen Volkswirtschaften kommt es zu Arbeitskampfmaßnahmen. Dieser Versuch, die Reallöhne nach dem Inflationsschock wieder zu erhöhen, dürfte die nächste Phase des ,Konflikts‘ zwischen Arbeitnehmern und Unternehmen sein und einen erheblichen Aufwärtsdruck auf Löhne/Arbeitskosten, Gewinnspannen und die Inflation ausüben“, erklärt Lind.

Grund Nr. 3: Fragmentierung des Handels (Deglobalisierung)

Der Prozess der Fragmentierung des Handels ist aus Sicht des Experten eine weitere Quelle potenziellen Inflationsdrucks. Die zunehmende Fragmentierung des Handels und Veränderungen in den Lieferketten könnten zu einem unelastischeren Angebot führen, was die Häufigkeit negativer Angebotsschocks erhöhen würde. Dies wiederum dürfte die Preise in die Höhe treiben und damit die Inflation anheizen.

Die Zentralbanken werden wahrscheinlich eine höhere Inflation zulassen

Lind ist der Ansicht, dass die Zentralbanken letztlich eine pragmatische Haltung gegenüber der längerfristig höheren Inflation entwickeln und sie zulassen könnten. Zum einen könnten die Zentralbanken gezwungen sein, die Notwendigkeit einer stärkeren Koordinierung der makroökonomischen Politik zu akzeptieren. „Angesichts des zunehmenden Drucks auf die Finanzpolitik halte ich es für unwahrscheinlich, dass die Regierungen in der Lage sein werden, die Geldpolitik wie nach der Schuldenkrise zu straffen“, sagt Lind. „Wie bereits erwähnt, erfordern politische und wirtschaftliche Erwägungen mittelfristig eine strukturell lockerere Finanzpolitik.“

Zum anderen könnte auch die Möglichkeit häufigerer Angebotsschocks die Zentralbanken zwingen, bei ihren Inflationszielen pragmatischer und flexibler vorzugehen. „Angesichts des erwähnten Konflikts zwischen Arbeitnehmern und Unternehmen sowie der Deglobalisierung, die die Kosten und Preise in die Höhe treibt, könnte es für die Zentralbanken gefährlich sein, zu versuchen, die Inflation schnell wieder auf das Zielniveau zu bringen. Denn dies wäre mit erheblichen Kosten für das reale Wirtschaftswachstum und die Realeinkommen verbunden“, so Lind.

Und schließlich dürften die Zentralbanken auch deshalb höhere Inflationsraten hinnehmen, weil sie sich der Gefahren finanzieller Instabilität bewusst seien. Wie sich im letzten Herbst in Großbritannien und zuletzt in den USA und Europa gezeigt habe, könne finanzielle Instabilität zu erheblicher Marktvolatilität führen. „Ich bin skeptisch gegenüber den Argumenten der Zentralbanker, dass sie der finanziellen Instabilität und der Inflation mit getrennten politischen Instrumenten begegnen können“, sagt Lind. Wenn der Zinssatz, der mit finanzieller Stabilität vereinbar sei, niedriger sei als der Zinssatz, der mit einer stabilen Zielinflation vereinbar sei, stünden die Zentralbanken vor einer schwierigen Entscheidung. „Ich bin überzeugt, dass die Zentralbanken der Finanzstabilität letztlich den Vorrang vor der Eindämmung der Inflation einräumen werden“, sagt Lind. „Dies gilt allerdings nur, wenn die Inflation strukturell höher ist und zugleich keine instabile Dynamik zu beobachten ist.“

Der Experte resümiert: „Aus meiner Sicht könnten wir eine Inflation von etwa 3-7 Prozent erleben. Das wäre zwar keine Rückkehr zu den 1970er Jahren, aber dennoch eine deutliche Veränderung gegenüber der Situation in den letzten beiden Jahrzehnten.“

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