Robeco: „Sie können eine Strategie nicht blindlings über Bord werfen“

Kent Daniel, Professor an der Columbia Business School
Interview

Kent Daniel ist Professor an der Columbia Business School. Er war in der Quantitative Investment Strategies-Gruppe von Goldman Sachs tätig und hat sich in seiner Forschung auf Behavioral Finance und Asset Pricing spezialisiert. Robeco hat mit ihm über Faktoren, Verzerrungen und seine aktuelle Forschungsarbeit gesprochen.

07.12.2023 | 10:13 Uhr

Haben Sie ein Lieblings-Faktormodell? Wenn ja, welches?

„Ich würde sagen, das verändert sich laufend. Seit den ursprünglichen Factor-Modellen hat sich sehr viel verändert, und künftig wird sich noch viel mehr verändern. Die Frage ist, ob wir den Modellen weitere zusätzliche Einzelfaktoren hinzufügen – oder stattdessen den Buchwert der Unternehmen genauer justieren, um ihren Fundamentalwert besser zu erfassen?

Ich tendiere zu Letzterem, um den fundamentalen Wert der Unternehmen besser widerzuspiegeln. Idealerweise liefern unsere Modelle eine Messzahl zur Wertbestimmung, die sämtliche Informationen, die den Investoren zur Verfügung stehen, berücksichtigt und dann dem Marktpreis gegenübergestellt werden kann. Darüber hinaus sollten diese Modelle kurzfristige, anlegerinduzierte Verzerrungen berücksichtigen, die beispielsweise durch Unaufmerksamkeit entstehen.

Dies war auch der Grund für meine Arbeit mit David Hirshleifer und Lin Sun an einem Modell, das auf kurz- und langfristigen Marktfaktoren beruht und einen Schritt in diese Richtung darstellt. Das Modell ist zwar nicht perfekt, aber ein vielversprechender Anfang.“

In Ihrer Abhandlung über Momentum-Crashs haben Sie diese dynamische Strategie erwähnt, die helfen soll, solche Crashs abzumildern. Wie hat sich Ihr Denken in dieser Hinsicht entwickelt, insbesondere mit Blick auf Ihre jüngste Arbeit?

„Für mich war das eine faszinierende Abhandlung. Ich habe festgestellt, dass Momentum an den asiatischen Märkten, insbesondere in Japan, offenbar nicht besonders effektiv funktioniert. In Rahmen meiner Forschung mit Toby Moskowitz hatten wir es mit einem Algorithmus zur Crash-Erkennung zu tun, der auf den US-amerikanischen Markt zugeschnitten war. Als wir den Algorithmus dann auf den japanischen Markt angewandt haben, bekamen wir jedoch einige unerwartete Ergebnisse. Als unser Algorithmus bestimmte Zeiträume als wahrscheinliche Crash-Phasen hervorhob und wir diese eliminierten, stellten wir fest, dass Momentum in Japan doch funktioniert.

Zudem ist der Momentum-Faktor über verschiedene Anlageklassen hinweg belastbar. Sobald man die potenziellen Crash-Phasen testet und eliminiert, zeigt der Faktor eine solide Performance. Momentum ist also wirklich robust. Dennoch ist eine statische Momentum-Strategie möglicherweise nicht der richtige Weg. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, die aktuellen Marktbedingungen zu beurteilen und zu entscheiden, ob es der richtige Zeitpunkt für Momentum ist. Das war das zentrale Ergebnis unserer Forschung.

Faktor-Timing ist verpönt – und zwar aus gutem Grund. Denn es stellt Sie vor Probleme in Bezug auf das Data-Mining. Aus einer modellgesteuerten Perspektive nach Bayes kann ein bisschen Faktor-Timing aber eine gute Sache sein.“

Wie schätzen Sie kurzfristige Umkehreffekte, Analystenrevisionen und Datenflüsse mit Blick auf Ihre Forschung über Unaufmerksamkeit und kurzfristige Faktoren ein? Sind sie der Grund für einige der von Ihnen erwähnten kurzfristigen Dynamiken?

„Historisch betrachtet ist es bemerkenswert, dass ein Faktor für die kurzfristige Umkehr, wenn er auf einer soliden wirtschaftlichen Analyse beruht und wir die Transaktionskosten außer Acht lassen, seit den 1980er Jahren eine annualisierte Sharpe-Ratio von etwa 8 erzeugt. Das ist verrückt. Die Umsetzung einer solchen Strategie wäre damals, mit dem Wissen von heute, außerordentlich profitabel gewesen. Doch ich bin mir nicht sicher, ob eine Rückschau immer eine valide Analyse liefert!

Bei den kurzfristigen Umkehreffekten geht es im Wesentlichen darum, Kauf- oder Verkaufstransaktionen zu identifizieren, die nicht auf relevanten Nachrichten beruhen. Wenn beispielsweise der Aktienkurs eines Unternehmens am Tag seiner Gewinnmeldung deutlich ansteigt, folgt darauf üblicherweise keine kurzfristige Umkehr. Vielmehr steigt der Wert der Aktie weiter an. Das Gleiche gilt, wenn eine Kursveränderung durch branchenbezogene Einflussfaktoren oder andere relevante Nachrichten gestützt wird. Um eine kurzfristige Umkehr vorauszusagen, müssen Sie eine Kursbewegung anhand aller verfügbaren Informationen analysieren. Wenn nach Berücksichtigung aller bekannten Faktoren immer noch Aufwärtspotenzial verbleibt, ist keine Umkehr zu erwarten.

Doch in den letzten Jahrzehnten sind die potenziellen Renditen aus diesem Ansatz sehr stark zurückgegangen. Wegen der entstehenden Handelskosten könnte sich diese Strategie lediglich für diejenigen lohnen, die technisch auf dem allerneuesten Stand sind. Für andere ist der Ansatz eher ein Hilfsmittel, um abzuschätzen, wann sich eine Transaktion lohnt, beispielsweise, um eine Aktie zu kaufen, wenn sie einen Kurshöchststand erreicht hat und bevor ein Rücksetzer zu erwarten ist. Allerdings handelt es sich dabei um etwas ganz anderes als um Momentum oder Kursbewegungen, die nach einer Gewinnmeldung stattfinden.“

Sie haben erwähnt, dass das Buchwert/Kurs-Signal zuletzt möglicherweise an Wirkung verloren hat. Was halten Sie vom aktuellen Trend, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis, immaterielle Vermögenswerte zu berücksichtigen und F&E-Ausgaben für Bewertungszwecke zu aktivieren?

„In zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten werden die F&E-Ausgaben heute kapitalisiert. Oder es wird ein Teil der Vertriebsgemeinkosten (SG&A) genommen und versucht, ihren Beitrag zum Marken-, Wissens- und Organisationskapital zu bestimmen. Bei der Berechnung dieser Kapitalisierungskennzahlen und der daraus resultierenden Buchwert-Anpassung stellt sich heraus, dass Kennzahlen wie das Buchwert/Kurs-Verhältnis oder das Buchwert/Marktwert-Verhältnis viel effektiver sind.

Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen wie Tano Santos, Lira Mota vom MIT und Simon [Rottke] zielen wir darauf ab, die Aktivitäten von traditionellen Value-Investoren und von Fundamental-Investoren zu vereinen. Denn wenn man es sich genau überlegt, ist das, was sie tun, eigentlich nichts anderes. Sie bemessen den realen Wert, den ein Unternehmen aufgebaut hat, einschließlich seines Organisations- und Wissenskapitals. Und dann bewerten sie das Potenzial, damit hohe Renditen zu erzielen.

“Dieser ganzheitliche Ansatz spiegelt wider, wie Value-Investoren denken. Und als quantitative Investoren wollen wir auch mehr in diesen Dimensionen denken.

Von entscheidender Bedeutung ist außerdem das Konzept der „Burggräben“, d. h. der Marktzutrittsschranken, die ein Unternehmen schützen. Man sollte den Buchwert nicht nur um den Wert des immateriellen Kapitals anpassen, sondern auch um sein Potenzial, hohe Renditen zu erwirtschaften. Denn das ist es, was den Wert eines Unternehmens am Ende des Tages bestimmen wird. Dieser ganzheitliche Ansatz spiegelt wider, wie Value-Investoren denken. Und als quantitative Investoren wollen wir auch mehr in diesen Dimensionen denken.“

Wie schützen Sie sich bei Investitionsentscheidungen und bei der Bewertung dessen, was sich bewährt hat oder nicht bewährt hat, vor der Handlungsneigung (Action Bias)? Ein Beispiel ist Value, das bis 2021 als nicht funktionierender Anlagestil galt, aber dann ein Comeback feierte. Hätten Sie Ihre Strategie zu früh geändert, hätten Sie diese Gewinne möglicherweise verpasst. Wie gehen Sie mit solchen Szenarien um?

„Ich denke, man sollte sich dieser Verzerrungen bewusst sein. Alles, was man tut, muss wissenschaftlich fundiert sein. Wenn Sie also feststellen, dass Value nicht funktioniert, gibt es mehrere mögliche Erklärungen dafür. Vielleicht ist die Strategie fehlerhaft. Vielleicht hat sich die Marktdynamik auf unvorhersehbare Weise verändert. Oder vielleicht haben sich die Technologien in einer Weise weiterentwickelt, die wir nicht vorhersehen konnten.

Wenn Sie Ihr Modell bewerten und starke Belege dafür finden, dass es fehlerhaft ist, wäre es voreilig, Value einfach über Bord zu werfen oder auf Growth zu wechseln. Sie sollten auch andere Erklärungen in Betracht ziehen. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Geschehnisse genau zu verstehen und diese Erkenntnisse in Ihre Strategie einfließen zu lassen.

Die immateriellen Werte nicht zu berücksichtigen, war rückblickend ein Versäumnis, das wir früher hätten beheben sollen. Einige Vermögensverwalter zeigten sich bemerkenswert resistent. Sie hielten an ihren traditionellen Value-Investitionen fest, passten aber ihren Ansatz an. Irgendwie bewundere ich ihren Mut. Einer von ihnen musste beträchtliche Kapitalabflüsse von mehr als 50 % hinnehmen, weil seine Value-Investments kontinuierlich unterdurchschnittliche Ergebnisse lieferten. In den letzten Jahren haben sie sich jedoch im Zuge des Value-Comebacks wieder erholt. Dasselbe hatten wir in den späten 1990er Jahren schon erlebt. Damals kamen viele Value-Strategien unter die Räder, die sich jedoch mit der Zeit wieder erholt haben. Und ich glaube, dass Sie eine Strategie nicht einfach blindlings über Bord werfen können.“

“Und ich glaube, dass Sie eine Strategie nicht einfach blindlings über Bord werfen können


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