Capital Group: Fünf Trends, die die Energiemärkte im Jahr 2023 bestimmen

Capital Group: Fünf Trends, die die Energiemärkte im Jahr 2023 bestimmen
Energie

Die Wiedereröffnung Chinas und die Aufhebung der dortigen COVID-19-Beschränkungen dürfte die Ölnachfrage auf neue Höchststände treiben.

22.03.2023 | 12:54 Uhr

Im Überblick

  • Die hochwertigeren Ölreserven sind aufgebraucht und die weitere Exploration wird teurer und erfordert mehr Fachwissen, je weiter die Bohrungen vordringen.
  • Öl- und Gasunternehmen suchen nach neuen Wegen, um die Emissionen in ihrem Betrieb zu reduzieren. Während die europäischen Öl- und Gasunternehmen nach Ersatz für ihr Geschäft mit fossilen Brennstoffen suchen, konzentrieren sich die US-Unternehmen in erster Linie darauf, wie sie Kohlenstoff aus ihrem bestehenden Geschäft entfernen können.

Geht noch mehr für Energieaktien?

Diese Frage stellen sich viele Anleger, da der Energiesektor in den vergangenen zwei Jahren alle anderen Sektoren deutlich überholt hat. In der Vergangenheit stellte die Entwicklung des Ölpreises einen guten Indikator für die Aussichten des Sektors dar, da sich der Preis direkt auf die Umsatzrenditen vieler Unternehmen auswirkt. Doch im Jahr 2023 scheint es bisher einige Abweichungen von diesem bewährten Zusammenhang zu geben. Tatsächlich haben die Ölpreise im vergangenen Jahr eine stürmische Fahrt hinter sich und sind erst kürzlich wieder in die Nähe des Ausgangsniveaus von 2022 zurückgekehrt. Dagegen konnten die Energietitel ihre Gewinne größtenteils beibehalten.

1. Wird die Hausse bei Ölaktien anhalten?

Wir sind der Ansicht, dass wir uns in der Anfangsphase einer mehrjährigen Hausse bei Ölaktien befinden. Das bedeutet nicht, dass sich der Energiesektor – angeführt von den Ölaktien – in einer geraden Linie bewegen wird. Neben langen Aufwärtstrends gibt es auch Minizyklen, die teilweise Monate bis zu einem Jahr oder länger dauern, und in denen kurzfristige Faktoren die längerfristigen Trends von Angebot und Nachfrage überwiegen. Dennoch sehen wir für die nächsten drei bis fünf Jahre Investitionsmöglichkeiten.

Die Wiedereröffnung Chinas und die Aufhebung der dortigen COVID-19-Beschränkungen wird die Ölnachfrage wahrscheinlich auf einen neuen Höchststand treiben, wobei die Internationale Energieagentur (International Energy Agency, IEA) einen Anstieg von fast zwei Millionen Barrel pro Tag prognostiziert. Derweil besteht eine strukturelle Angebotsverknappung, die auf jahrelange Unterinvestitionen der Ölgesellschaften in neue Kapazitäten, Produktionskürzungen der Organisation erdölexportierender Länder (Organisation of Petroleum Exporting Countries, OPEC+), deren Fördermenge unter den angestrebten Zielen liegt, und auf sinkende Schiefergasvorräte in den USA zurückzuführen ist. Es wird noch einige Jahre dauern, bis das Angebot mit der Nachfrage Schritt halten kann. Zusammengenommen dürften diese Faktoren die Ölpreise über 70 US-Dollar pro Barrel stützen.

Die Analyse früherer Bullenmärkte für Energieaktien (als Beispiel zeigen wir in der nachstehenden Grafik Kanada) deutet darauf hin, dass wir uns noch in den Anfängen einer positiven Wertsteigerung des Sektors befinden könnten. Unterstützt durch höhere Energiepreise erwirtschafteten die Unternehmen des Sektors im Jahr 2022 einen rekordverdächtigen geschätzten freien Cashflow (free cash flow, FCF) von 1,4 Billionen US-Dollar. Die Bewertungen sind in Bezug auf eine Reihe von Kennzahlen wie das Kurs-Gewinn- sowie das Kurs-Buchwert-Verhältnis weiterhin attraktiv. Und die Widerstandsfähigkeit der Ölaktien angesichts fallender Ölpreise in den letzten drei Monaten deutet darauf hin, dass die Anleger über eine kurzfristige Schwäche des zugrunde liegenden Rohstoffpreises hinwegsehen.

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2. Was sind die Spitzenausgabenprioritäten der Ölgesellschaften?

Das Geschäftsmodell der Branche hat sich weitgehend von einem Schwerpunkt auf hohem Wachstum und Reinvestitionen in die Produktion zu einem Schwerpunkt auf höheren Dividendenausschüttungen und mehr Kapitaldisziplin gewandelt. Dies war eine der deutlichsten Veränderungen, die wir bislang erlebt haben. Und dieser Trend wird sich voraussichtlich fortsetzen. Der rekordverdächtige Cashflow der vergangenen zwölf Monate hat den Ölproduzenten einige der solidesten Bilanzen der Geschichte beschert. Fast 40 % der Führungskräfte der 100 größten Öl- und Gasunternehmen in den USA gaben laut einer Deloitte-Studie aus dem Jahr 2022 an, dass Schuldenabbau und Aktionärsrenditen für sie oberste Priorität bei der Kapitalallokation haben.

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Diese erneute Konzentration auf die Aktionärsrenditen ist darauf zurückzuführen, dass die Investoren Kapitaldisziplin fordern. Investoren, die bereit sind, sich jetzt zu engagieren, drängen eher auf Dividenden und Aktienrückkäufe als auf Reinvestitionen zu höheren Preisen. Es wird wahrscheinlich noch zwölf bis 18 Monate dauern, bis die Erzeuger beginnen, in ihre Unternehmen zu reinvestieren, wobei sie weiterhin auf Kapitaldisziplin und Kapitalrendite achten müssen.

Auch die Dynamik von Angebot und Nachfrage spricht für einen höheren Ölpreis. Es wird Jahre dauern, bis das Angebot die Nachfrage eingeholt hat, wie die zunehmenden Produktionsdefizite der OPEC+ und die prognostizierten schwindenden weltweiten Kapazitätsreserven zeigen. Unter den großen ölproduzierenden Ländern könnte Saudi-Arabien seine Kapazität um eine Million Barrel pro Tag und die Vereinigten Arabischen Emirate um eine weitere Million Barrel erhöhen. Es würde jedoch Jahre dauern, diese Kapazitäten auszubauen, und die US-Produktion geht recht schnell zurück. Zusammengenommen gibt es einfach nicht genug Öl, um die weltweite Versorgung zu sichern.

Außerdem steigen die Explorationskosten. Die hochwertigeren Ölreserven sind aufgebraucht und die weitere Exploration wird teurer und erfordert mehr Fachwissen, je weiter die Bohrungen vordringen. Den US-amerikanischen Explorations- und Produktionsunternehmen fehlt das Fachwissen für die fortgeschrittene Exploration und um neue Angebote auf den Markt zu bringen, werden sie wahrscheinlich Unternehmen erwerben müssen, die wissen, wie man diese Ölfelder erschließt. Außerdem sind die Kosten für Öldienstleistungen mit der Inflation gestiegen. Die höhere Kostenstruktur wirkt sich auf die gesamte Branche aus, trifft aber vor allem kleinere Unternehmen, die weniger Möglichkeiten zur Personalbeschaffung haben.

Unter Berücksichtigung der Angebots- und Nachfragedynamik sind wir der Ansicht, dass 70 US-Dollar pro Barrel Öl eine Untergrenze darstellen, die in den meisten Szenarien Bestand haben dürfte. Unsere Analyse zeigt, dass dies den großen Ölgesellschaften die Aufrechterhaltung ihrer Rentabilität ermöglichen würde, selbst wenn man die Inflation und höhere Produktionskosten berücksichtigt.

3. Welche Auswirkungen hat das Inflationsbekämpfungsgesetz (Inflation Reduction Act) auf die Energieunternehmen?

Das Inflationsbekämpfungsgesetz 2022 ist ein bahnbrechender Rechtsakt. Der Gesetzesentwurf stellt 369 Milliarden US-Dollar an Bundesmitteln als Steueranreize für saubere Energie, Darlehen sowie Subventionen für Verbraucher und Unternehmen zur Verfügung, die das Potenzial haben, das Renditeprofil für Investitionen in Bereichen wie der Kohlenstoffbindung und dem Aufbau einer sauberen Wasserstoffinfrastruktur zu verbessern.

In den nächsten zehn Jahren könnten die Rechtsvorschriften zu einer Welle von Investitionen beitragen. Öl- und Gasunternehmen sowie Chemie- und Automobilhersteller sind nur einige der potenziellen Nutznießer. Nur eine Handvoll der US-Supermajors, der größten börsennotierten Öl- und Gasunternehmen in den USA, hat skalierbare kohlenstoffarme Projekte in Angriff genommen, aber die Subventionen im Inflationsbekämpfungsgesetz werden wahrscheinlich andere von ihrer Randposition wegbringen.

Inmitten des Optimismus ist zu erkennen, dass einige Unternehmen vorsichtig vorgehen. Denn sie sind sich bewusst, dass sich die politischen Prioritäten mit einer Veränderung des politischen Kräfteverhältnisses ändern könnten. Die Regierung von Joe Biden unterstützt zwar Investitionen in erneuerbare Energien; sollte es jedoch bei den nächsten Wahlen zu einem Regierungswechsel kommen oder sollten die Energiepreise zu hoch werden, könnten sich die Prioritäten leicht wieder zugunsten fossiler Brennstoffe verschieben, um die Kosten zu senken.

4. Wie unterscheiden sich europäische und US-amerikanische Unternehmen in ihren Ansätzen zur Kohlenstoffneutralität?

Öl- und Gasunternehmen suchen unabhängig der Region nach neuen Wegen, um die Emissionen in ihrem Betrieb zu reduzieren. Eine der wichtigsten Triebkräfte für diese Verhaltensänderung war die Zunahme von Netto-Null-Zielen, bei denen die Menge der vom Menschen verursachten Treibhausgasemissionen durch eine gleichwertige Reduzierung ausgeglichen wird.

Während europäische Öl- und Gasunternehmen proaktiv nach Ersatz für ihr Geschäft mit fossilen Brennstoffen suchen, konzentrieren sich die US-amerikanischen Unternehmen in erster Linie darauf, wie sie Kohlenstoff aus ihrem bestehenden Geschäft entfernen können. Sie nutzen Taktiken wie die Kohlenstoffbindung – bei der Kohlendioxid aus der Atmosphäre entnommen und in fester oder flüssiger Form gespeichert wird –, anstatt ihren Energiemix zu diversifizieren.

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Wie bei ihren US-amerikanischen Partnern werden auch für europäische Unternehmen durch neue Rechtsvorschriften Anreize geschaffen. Im REPowerEU-Plan, der von der Europäischen Kommission im März 2022 übernommen wurde, sind neue Investitionen in Höhe von fast 210 Milliarden Euro für saubere Energie in der Europäischen Union vorgesehen. Mit dem Gesetzesentwurf werden neue Energiepartnerschaften mit Anbietern von erneuerbaren und kohlenstoffarmen Gasen sowie saubere Wasserstoffprojekte und der Ausbau von Solar- und Windkraftanlagen finanziert.

Wenn jetzt nicht in die Infrastruktur für erneuerbare Energien investiert wird, besteht die Gefahr, dass die Unternehmen zu einem späteren Zeitpunkt in Schwierigkeiten geraten werden. Und dabei geht es nicht nur um Belange hinsichtlich Umwelt, Soziales und Unternehmensführung. Es besteht die Gefahr, dass Marktanteile verloren gehen, wenn die Gesamtnachfrage nach erneuerbaren Energien steigt.

5. Wo sehen Sie Bereiche mit relativem Wert?

Die Ansicht, dass die Produktionskosten für kanadische Ölsande in der Region Alberta hoch sind, ist ziemlich weit verbreitet. Aber die tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort ändern sich. Die Kosten für die Ölförderung sind dort in den vergangenen beiden Jahrzehnten gesunken. Die lange Lebensdauer und der geringe Verfall dieser Anlagen bedeuten, dass die Kapitalintensität, die zur Aufrechterhaltung des Betriebs erforderlich ist, im Vergleich zu US-Konkurrenten vergleichsweise gering ist, und sie ermöglichen eine hohe Generierung von freiem Cashflow, d. h. von Cashflow, der die Betriebs- und Kapitalkosten des Unternehmens übersteigt. Darüber hinaus werden die kanadischen Ölsandaktien häufig mit Bewertungsabschlägen gegenüber der US-amerikanischen Explorations- und Produktionsvergleichsgruppe gehandelt. Dies ist zum Teil auf Umweltbedenken und die hohe Kohlenstoffintensität der Produktion pro Barrel zurückzuführen.

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Die Managementteams ausgewählter US-amerikanischer und europäischer Ölgiganten arbeiten mit der stärksten Kapitaldisziplin seit Jahrzehnten und die Dividenden bieten den Anlegern ein gewisses Polster, selbst wenn die Ölpreise von nun an nachgeben sollten. Die Supermajors könnten von den länger anhaltenden höheren Öl- und Gaspreisen profitieren, die den vorgelagerten (Upstream-) Explorations- und Produktionsunternehmen zugute kommen – zusätzlich zu den rekordverdächtigen Raffineriemargen im nachgelagerten Bereich, denen reine Upstream-Unternehmen nicht ausgesetzt sind. Auf der Bewertungsbasis werden die europäischen Supermajors, was das Kurs-Gewinn-Verhältnis betrifft, trotz sehr ähnlicher Geschäftsmerkmale mit einem überdurchschnittlichen Abschlag gegenüber ihren US-Konkurrenten gehandelt.

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Craig Beacock ist Aktienanalyst bei der Capital Group und verantwortlich für Energie, kanadische Small und Mid Caps sowie integrierte Ölkonzerne, Midstream und Ölraffinerien aus den USA und Europa. Er hat einen Bachelor in Betriebswirtschaft von der University of Southern California und ist Chartered Financial Analyst®. Beacock arbeitet in San Francisco.

Darren Peers ist Aktienanalyst bei der Capital Group und verantwortlich für integrierte Öl- und Gasanbieter aus den USA und Europa, Öl- und Gasförderung und -produktion aus den USA und Kanada, Öl- und Gasraffinerien und -Marketing sowie USMaschinenbaukonzerne. Er hat einen MBA von der Tuck School of Business des Dartmouth College und einen Bachelor in Volkswirtschaft vom Dartmouth College. Peers arbeitet in Los Angeles.


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