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Die Diversifizierung der trübsinnigen Wissenschaft

Die Diversifizierung der trübsinnigen Wissenschaft
Volkswirtschaft
Die Diversifizierung der trübsinnigen Wissenschaft
08/2021
Alicia Sasser Modestino
Project Syndicate

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Obwohl sich die Wirtschaftswissenschaften mathematischer Modelle und Techniken des maschinellen Lernens bedienen, gelten sie immer noch als Sozialwissenschaften.

10.09.2021 | 07:50 Uhr

Doch im Vergleich zu den meisten anderen Disziplinen bildet der Berufsstand der Ökonomen die Gesellschaft, in der wir leben, nicht einmal annähernd repräsentativ ab. In den Vereinigten Staaten erhielten im Jahr 2018 lediglich 32 Prozent Frauen den Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften, verglichen mit 57 Prozent in anderen Sozialwissenschaften und 41 Prozent in Naturwissenschaften und Technik. Noch schlimmer: bei nur 3,7 Prozent der frischgebackenen Doktorinnen und Doktoren der Wirtschaftswissenschaften handelte es sich um Angehörige der hispanischen und schwarzen Bevölkerungsgruppe – ein Anteil, der deutlich unter dem gemeinsamen Anteil dieser Bevölkerungsgruppen an Promotionen in anderen Sozialwissenschaften (14 Prozent) und in Naturwissenschaften und Technik (8 Prozent) liegt.

Die Disziplin der Wirtschaftswissenschaften hat in den letzten zehn Jahren wenig bis gar keine Fortschritte in Richtung einer größeren Vielfalt hinsichtlich Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit oder ethnische Vielfalt gemacht, und es sieht nicht so aus, als würde sich das in nächster Zeit ändern. Es besteht ein hartnäckiges Nachwuchsproblem, das schon damit beginnt, dass es sich bei nur etwa einem Drittel aller Studierenden und Personen mit einem Abschluss in Wirtschaftswissenschaften um Frauen handelt. Im akademischen Bereich fallen Frauen, wenn es um Professuren an Universitäten geht, im Vergleich zu Männern überproportional stark auf der Karriereleiter ab, weswegen nur 15 Prozent dieser Stellen mit Frauen besetzt sind.

Warum ist die Diversifizierung in den Wirtschaftswissenschaften nicht gelungen? Der einfache Grund besteht darin, dass man in diesem Bereich dazu neigt, sich zur Lösung der meisten Probleme – auch der Diskriminierung - auf die Marktkräfte zu verlassen. Die Diskriminierungstheorie des verstorbenen Wirtschaftsnobelpreisträgers Gary S. Becker besagt, dass Arbeitgebern, die aufgrund von Faktoren diskriminieren, die nichts mit Produktivität zu tun haben – wie etwa die Zugehörigkeit zu Geschlecht oder Ethnie – monetäre Kosten entstehen (etwa durch die Bezahlung höherer Löhne). Auf einem kompetitiven Arbeitsmarkt entstehen nicht-diskriminierenden Arbeitgebern diese Kosten nicht, weswegen sie die diskriminierenden Arbeitgeber eigentlich aus dem Markt verdrängen sollten.

Dieses Modell lässt viele Ökonominnen und Ökonomen skeptisch gegenüber Analysen werden, die Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern und Gruppen unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit auf Diskriminierung zurückführen. Stattdessen suchen sie nach anderen möglichen Ursachen, wie etwa Unterschiede im Bildungsniveau oder in der Berufswahl - oft ohne zu erkennen, dass diese ebenfalls auf diskriminierende Praktiken zurückzuführen sein könnten.

Die mittlerweile entstehende Literatur, in der geschlechtsspezifische Unterschiede in den Wirtschaftswissenschaften hervorgehoben werden, bildet keine Ausnahme. Frühere wissenschaftliche Untersuchungen zeigten, dass Wirtschaftswissenschaftlerinnen tendenziell seltener befördert werden. Doch erst als spätere Studien ergaben, dass Frauen auch weniger Anerkennung als ihre männlichen Ko-Autoren erhielten, dass ihre Arbeiten von wissenschaftlichen Zeitschriften eher abgelehnt und in Online-Foren systematisch trivialisiert werden, hat die Disziplin ihr „Gender-Problem” anerkannt.

In einer jüngst durchgeführten Studie stellen meine Ko-Autoren und ich eine Verbindung zwischen dieser Ungleichbehandlung und der Unterrepräsentation von Frauen in diesem Bereich fest. Wir zeigen, dass Wirtschaftswissenschaftlerinnen in nahezu identischen Fachvortragssituationen im Durchschnitt 12 Prozent mehr Fragen erhalten als Männer und eher mit herablassenden oder feindseligen Fragen konfrontiert werden. Am deutlichsten zeigt sich diese Ungleichheit bei den „Jobgesprächen“ – also im Rahmen von Präsentationen in der letzten Phase der akademischen Rekrutierung und auf der ersten Sprosse auf der Karriereleiter.

Wie kann nun die Ökonomie ihren eigenen Verhaltensgrundsätzen gerecht werden, um „ein Umfeld zu gewährleisten, in dem sich alle frei engagieren können und in dem jede Idee allein aufgrund ihrer Vorzüge beurteilt wird”? In unserer Studie stellten wir fest, dass es keine schnellen und einfachen marktbasierten Lösungen gibt. Wir können die Unterschiede in der Behandlung von Wirtschaftswissenschaftlerinnen bei Fachvorträgen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen nicht einheitlich entschärfen, indem wir einfach Regeln einführen, wie etwa Fragen bis zum Ende eines Vortrages aufzuschieben. Vielleicht liegt es daran, dass schon ein übelwollender Akteur reicht, um eine wissenschaftliche Veranstaltung zu torpedieren, was in den Wirtschaftswissenschaften häufig passiert: in einem Fünftel aller Jobgespräche, so stellten wir fest, gab es zumindest einen „besonders störenden“ Teilnehmer.

Letztlich tragen Ökonominnen und Ökonomen sowohl eine individuelle als auch eine kollektive Verantwortung für die Förderung eines integrativen beruflichen Verhaltens. Dazu ist es erforderlich, dass man in den Wirtschaftswissenschaften den vorherrschenden Laissez-faire-Ansatz hinsichtlich des Verhaltens im Beruf ablegt und bei wissenschaftlichen Veranstaltungen und Konferenzen Moderatorinnen und Moderatoren ernennt, die Regeln durchsetzen, sich bei Grenzüberschreitungen zu Wort melden und Studierenden angemessenes Verhalten vorleben.

Zumindest können wir durch Selbstreflexion unser eigenes Verhalten an unseren Instituten und anderen professionellen Umgebungen kontrollieren. Beinahe die Hälfte aller Wirtschaftswissenschaftlerinnen berichten, „auf einer Konferenz oder bei Präsentationen nicht gesprochen zu haben, um mögliche Belästigungen, Diskriminierungen oder unfaire oder respektlose Behandlung zu vermeiden.“ Wenn wir der Meinung sind, dass Talent und Fähigkeiten gleichmäßig zwischen den Geschlechtern verteilt sind, dann entgehen den Wirtschaftswissenschaften eine Menge guter Ideen.

Durch die Diskriminierung von Frauen und unterrepräsentierten Minderheitengruppen lassen die Wirtschaftswissenschaften auch eine versteckte Voreingenommenheit bei der Erfassung und Analyse von Daten fortbestehen, die die politische Entscheidungsfindung durchdringt. Ökonomen beraten Regierungen routinemäßig bei einer Vielzahl von Entscheidungen, die das Leben der Menschen betreffen und sich auf aggregierte Messgrößen des Wohlergehens wie Verbraucherausgaben, Wirtschaftswachstum und Einkommensungleichheit auswirken. In den USA wurden diese beratende Funktionen bis vor kurzem ausschließlich von Weißen und überwiegend von Männern wahrgenommen.

Cecilia Rouse, die kürzlich ernannte Vorsitzende des wirtschaftlichen Beraterstabes von US-Präsident Joe Biden, ist die erste Person of Color und erst die vierte Frau in dieser Position. Rouse und die anderen Angehörigen des Beraterstabs haben dessen Zusammensetzung im Hinblick auf ethnische und Geschlechtszugehörigkeit sowie auch in ideologischer Hinsicht verändert und dazu beigetragen, dass sich der Schwerpunkt der Wirtschaftspolitik, in einer Zeit da sich Amerika von der Pandemie erholt und sich mit ethnisch bedingter Ungerechtigkeit und wirtschaftlicher Ungleichheit auseinandersetzt, von den Märkten hin zu den Arbeitskräften verlagert. So ist Biden nun der erste US-Präsident, der sich für eine dem Medicare-System ähnliche öffentliche Krankenversicherung, Kinderbetreuung als Kernbestandteil der nationalen Infrastruktur und einen bundesweiten Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde einsetzt.

Durch das Verständnis der geschlechtsspezifischen und ethnisch bedingten Vorurteile in unserem Berufsstand können wir institutionelle Arrangements neu gestalten und ein berufliches Umfeld entwickeln, in dem Frauen und People of Color gefördert werden und die freie Meinungsäußerung für alle Mitglieder gewährleistet ist. Um die drängendsten Probleme der Gesellschaft anzugehen, müssen die Wirtschaftswissenschaften garantieren, dass die Stimme jeder einzelnen Person gehört werden kann.

Copyright: Project Syndicate

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