Metzler: Kollaps der Zinserwartungen in der Eurozone

Edgar Walk, Chefvolkswirt Metzler Asset Management
Volkswirtschaft

Edgar Walk, Chefvolkswirt Metzler Asset Management, geht der Frage nach, warum die sogenannte „Phillips-Kurve“ flach ist – also kein Zusammenhang mehr zwischen Realwirtschaft und Inflationsrate besteht.

29.04.2019 | 10:44 Uhr

Das Bruttoinlandsprodukt (Dienstag) dürfte im ersten Quartal um etwa 1,0 % zum Vorjahresquartal gewachsen sein, was mehr oder weniger im Einklang mit den seit Januar 2018 deutlich gefallenen Geschäftsklimaindizes steht. Noch im zweiten Quartal 2018 lag die Wachstumsrate für die Wirtschaft der Eurozone bei 2,2 %. Derzeit schätzen viele Forschungsinstitute das langfristige Wachstumspotenzial der Eurozone auf etwas über 1,0 %, sodass die derzeitige Wachstumsverlangsamung zwar enttäuschend ist, aber keine Katastrophe. Solange die Wirtschaft der Eurozone in diesem Tempo wächst, bleibt die Arbeitslosenquote (Dienstag) stabil, und es kann sich kein zusätzlicher Inflationsdruck (Freitag) infolge einer steigenden Auslastung der gesamtwirtschaftlichen Kapazitäten aufbauen (nach der traditionellen Lesart). Es ist schon überraschend, dass die Kerninflation seit 2013 nur bei etwa 1,0 % seitwärts tendiert – trotz der seitdem umfangreichen geldpolitischen Schritte der EZB.

Die anhaltend niedrige Inflation in Kombination mit dem langsameren Wachstumstempo hat zu einem Kollaps der Zinserwartungen in der Eurozone geführt. So rechneten die Finanzmarktakteure noch im Januar 2011 damit, dass in den Jahren 2019 bis 2029 der EZB-Leitzins bei etwa 4 % liegen würde. Im Januar 2018 waren die Zinserwartungen schon merklich niedriger; man rechnete aber immerhin im Herbst 2019 wieder mit einem Leitzinsniveau im positiven Bereich. Derzeit erwarten die Finanzmarktakteure erst für den Spätherbst 2022 wieder einen EZB-Leitzins bei über 0 %.

Finanzmarktakteure erwarten anhaltend niedrige Zinsen
Erwartung laut OIS*-Forwards in %

Finanzmarktakteure erwarten anhaltend niedrige Zinsen

* OIS = Overnight Index Swap
Quellen: Bloomberg, Metzler; Stand: 24.4.2019

Die Frage ist nun, ob die Leitzinserwartungen nicht schon übertrieben niedrig sind. Sollte die Wirtschaft der Eurozone weiterhin mit etwa 1,0 % wachsen und die Kerninflation bei etwa 1,0 % verharren, besteht kein Grund für die EZB, ihre Zinspolitik zu ändern, und der Leitzins würde in den kommenden Jahren bei -0,4 % bleiben. Sollte sich das Wachstum im Jahresverlauf jedoch beleben und infolgedessen die Inflationsraten steigen, wäre auch Potenzial für höhere Leitzinsen vorhanden.

Die Geldmenge M1 (Montag) als zuverlässiger Frühindikator signalisiert derzeit gute Chancen auf eine Besserung der Konjunktur in den kommenden Monaten. Dabei wäre es jedoch wichtig, dass sich die Wachstumsrate der Geldmenge M1 weiter beschleunigt und damit eine dynamische Erholung anzeigt.

Ein Wirtschaftsaufschwung allein kann in einem Umfeld einer flachen Phillips-Kurve allerdings noch keine höheren Inflationsraten auslösen. Dabei ist derzeit noch völlig unklar, warum die Phillips-Kurve flach ist, also kein Zusammenhang zwischen Realwirtschaft und Inflation mehr besteht. Eine Erklärungsmöglichkeit könnte die Alterung der Gesellschaft sein: Der Anteil junger Menschen, die Autos, Möbel, Immobilien etc. kaufen, wird immer geringer, während der Anteil der älteren Menschen mit geringer Konsumneigung immer größer wird und somit reichlich Liquidität in die Finanzmärkte fließt. Daher ist auch keine Konsumentenpreisinflation zu beobachten, sondern eine Vermögenspreisinflation.

Eine andere Erklärungsmöglichkeit könnte sein, dass es nach einer schweren Finanzmarktkrise einfach lange dauert, bis das Vertrauen der Arbeitnehmer nach dem Schock wiederhergestellt ist, höhere Löhnen zu fordern – oder bis die Unternehmen nicht mehr befürchten, dass nach einer Preiserhöhung die Nachfrage einbricht. Eine Möglichkeit, diesen zeitlichen Aspekt zu berücksichtigen, besteht darin, die Abweichung der Kapazitätsauslastung vom Mittelwert
(= Normalauslastung) in einem Kapazitätsengpassindikator zu summieren. Je länger die Kapazitätsauslastung überdurchschnittlich hoch ist, desto größer das Vertrauen der Unternehmen in die Stabilität der Nachfrage – und desto größer die Bereitschaft zu Preiserhöhungen (= steigender Kapazitätsengpassindikator).

Deutschland: Langsam könnte sich Inflationsdruck aufbauen

Langsam könnte sich Inflationsdruck aufbauen

* In % ggü. Vj. (gleitender Durchschnitt über drei Quartale)
Quellen: Thomson Reuters Datastream, Metzler; Stand: 31.3.2019  

In Deutschland brach die Kapazitätsauslastung (Montag) in der Finanzmarktkrise dramatisch ein – von knapp 90 % im Jahr 2008 auf fast nur noch 70 % im Jahr 2009. Danach tendierte die Kapazitätsauslastung bis 2017 nur seitwärts auf durchschnittlichem Niveau. Dementsprechend sank der Kapazitätsengpassindikator 2009 stark und erholte sich nicht bis 2017. Erst seit 2017 steigt er wieder, da die Kapazitätsauslastung seitdem überdurchschnittlich hoch ist. Eine Wachstumsbelebung dürfte wieder für höhere Auslastungsraten sorgen und damit für tendenziell steigenden Preisdruck.

Die kommenden Monate werden zeigen, welche der beiden Erklärungsmöglichkeiten die Realität besser abbildet. Selbst wenn die Erklärung „Kapazitätsauslastung“ richtig sein sollte, würde es noch einige Zeit dauern, bis die Inflation anspringt. Frühestmöglich könnte die EZB dann den Leitzins im Sommer 2020 von -0,4 % auf -0,2 % anheben.

USA: Gute Konjunktur

Im Vergleich zur Eurozone entwickelt sich die US-Wirtschaft sehr gut. Die Wachstumsdynamik hat sich zwar laut ISM-Index (Mittwoch) und ISM-Index für den Dienstleistungssektor (Freitag) abgeschwächt, der Konsum (Montag) wächst aber nach wie vor kräftig, die Konsumenten sind zuversichtlich (Dienstag) und die Beschäftigung (Freitag) steigt.  

Dabei ist auch in den USA keinerlei Inflationsdruck zu beobachten, was die Kerninflation (Montag) zeigen dürfte. Das Wachstum der Lohnkosten (Dienstag) und der Löhne (Freitag) hat sich zuletzt zwar etwas beschleunigt, aber auch die Produktivität ist etwas schneller gewachsen, sodass die Lohnstückkosten mehr oder weniger stabil geblieben sind. Die US-Notenbank (Mittwoch) kann also bei ihrer abwartenden Haltung bleiben.

China: Bestätigen sich die positiven Vorgaben?

Die Einkaufsmanagerindizes sind im März deutlich nach oben gesprungen und bildeten damit eine Grundlage für die gegenwärtig optimistischere Stimmung bei den Finanzmarktakteuren. Die spannende Frage ist nun, ob sich die Einkaufsmanagerindizes auch im April auf den hohen Niveaus halten konnten und damit eine Fortsetzung des Wirtschaftsaufschwungs in China signalisieren. Es steht zu vermuten, dass Europa jedoch kaum davon profitieren wird. Denn die chinesische Regierung und die Staatsunternehmen werden versuchen, so viel wie möglich aus den USA zu importieren, um das bilaterale Handelsdefizit zu verringern und somit den Handelskonflikt mit den USA zu entschärfen.  

Diesen Beitrag teilen: