Die jüngste Ankündigung von Apple, das neueste iPhone-Modell in Indien produzieren zu wollen, hat der anhaltenden China-plus-one-Debatte weitere Nahrung gegeben.
19.04.2024 | 08:00 Uhr
„Mit einer China-plus-one-Strategie vermeiden es globale Unternehmen, ausschließlich in China zu investieren, um so ihre Lieferketten zu diversifizieren“, erläutert Julie Dickson, Investment Director bei Capital Group. „Es wird wichtig sein, abzuschätzen, inwieweit und wie schnell sich diese Verschiebungen von Lieferketten auf die ‚Fabrik der Welt‘ auswirken werden und welche Chancen sich daraus für Länder wie Indien eröffnen, die gut positioniert sind, um einen Teil der globalen Lieferlast zu übernehmen.“
Chancen
für Indien?
Indien
werde als offensichtlicher Nutznießer dieses Trends angesehen. Rajeev
Chandrasekhar, der indische Staatsminister für Elektronik und IT, habe kürzlich
den Wunsch geäußert, ein zuverlässiger globaler Partner und Teil der globalen
Wertschöpfungsketten für Halbleiter, Chipsätze und andere elektronische
Produkte werden zu wollen. In seiner Rede auf dem Bengaluru Technology Summit
im November 2022 sagte Chandrasekhar, dass sich die Elektronik- und
Halbleiterindustrie Indiens auf einen Wert von 1,5 Billionen US-Dollar
zubewege. Er betonte die wachsende Präsenz Indiens und wies darauf hin, dass im
Jahr 2014 92 Prozent der im Land verkauften mobilen Geräte importiert gewesen
seien, während im Jahr 2022 bereits 97 Prozent der Geräte in Indien hergestellt
worden seien.
„Die indische Regierung will das verarbeitende Gewerbe fördern und hat deshalb für verschiedene Sektoren produktionsabhängige Anreizsysteme (PLI) angekündigt. Zugleich sollen höhere Einfuhrzölle auf bestimmte Produkte und Komponenten eingeführt werden“, ordnet Dickson ein. Das erste Programm betreffe die Herstellung und Montage von Mobiltelefonen und sei von den Unternehmen gut angenommen worden. „Analysten gehen davon aus, dass beispielsweise Apple Indien bis 2025 zu einem globalen Zentrum für die Herstellung von iPhones machen wird“, sagt Dickson. Derzeit stelle das Land nur knapp fünf Prozent der weltweiten iPhone-Produktion. Analysten vermuten jedoch, dass die Fertigungskapazitäten erweitert werden und Indien bis 2025 für die Produktion von 25 Prozent aller iPhones verantwortlich sein könne.
Wie auch für China im Laufe der Jahre, sei für Indien die schiere Größe des potenziellen Inlandsmarktes ausschlaggebend. Der riesige lokale Markt erleichtere die Entscheidung für die Einrichtung von Produktionszentren im Land. „In diesem Punkt unterscheidet sich Indien von anderen in Frage kommenden Ländern wie Indonesien, Thailand und Vietnam, die in Bezug auf die Bevölkerungszahl von China massiv in den Schatten gestellt werden“, betont die Expertin. Im Gegensatz dazu sei Indien derzeit immerhin die zweitbevölkerungsreichste Nation der Welt (mit 1,417 Milliarden Menschen im Jahr 2022, verglichen mit 1,426 Milliarden in China) und könnte, laut dem UN-Bericht über die Weltbevölkerung 2022, bereits in diesem Jahr die Spitzenposition übernehmen. Indiens Verbraucherbasis wachse ebenfalls schnell und das Land dürfte in den nächsten zwei Jahren bei der Nachfrage nach Smartphones die USA überholen.
Es ist
noch zu früh, China auszuschließen
„Trotz
der lauten Schlagzeilen dürfte sich der Plus-one-Effekt erst allmählich
einstellen“, so Dickson. Wer eine rasche Verschiebung der
Lieferkettenstrukturen erwartet, sollte aus Sicht der Expertin folgende
Faktoren bedenken: Erstens seien die ausländischen Direktinvestitionen (ADI) in
China nach wie vor sehr hoch, aktuell mehr als sechsmal so hoch wie in Indien.
Im Jahr 2021 seien 19 Prozent der weltweiten ADI-Zuflüsse auf China entfallen,
während es in Indien nur drei Prozent gewesen seien.
„Zweitens: Zwar verweisen Kritiker auf die steigenden Arbeitskosten in China als Grund für Unternehmen, sich anderswo umzusehen. Allerdings steigen die Arbeitskosten in Indien derzeit schneller, von 2010 bis 2021 um 55 Prozent, während sie in China im gleichen Zeitraum um 37,9 Prozent zulegten“, erläutert Dickson.
Und schließlich sei da noch die Infrastruktur als Schlüsselfaktor. Indien und viele der anderen Schwellenländer, die vom Plus-one-Effekt profitieren könnten, müssten in den kommenden zehn Jahren noch viele der Straßen und anderen wichtigen Infrastrukturen ausbauen, über die China bereits verfüge. „Speziell in Indien sind die Ausgaben in diesem Bereich in den letzten Jahren gestiegen, aber es wird einige Zeit dauern, bis sie das Niveau erreichen, das erforderlich wäre, um mit Ländern wie China konkurrieren zu können“, sagt Dickson.
Ein
Blick in die Zukunft
Insgesamt
dürfte China bis zum Ende der 2020er Jahre und darüber hinaus Anteile am
Welthandel verlieren, während Indien, aber auch Vietnam, Thailand, Mexiko und
andere Länder wahrscheinlich an Bedeutung gewinnen werden, so Dickson. Es wäre
jedoch nach Ansicht der Expertin ein Fehler, China schon jetzt abzuschreiben.
Die vorhandene Produktionsinfrastruktur, die Logistikeinrichtungen, die
qualifizierten Arbeitskräfte und bestehende Lieferketten würden das Land zu
nützlich machen, um es in absehbarer Zeit aufgeben zu können.
„Indien steht zwar noch ein Anfang seiner Entwicklung, ist aber besser aufgestellt als China zu Beginn seiner Transformation zu einer Wirtschaftsmacht“, resümiert Dickson. „Indiens Regierung ist zielstrebig auf die wirtschaftliche Entwicklung ausgerichtet und scheut sich nicht, kurzfristig Schmerzen zu ertragen. Sie hat den Banken- und Immobiliensektor saniert, die Investitionen in die Infrastruktur erhöht und auch die Bürokratie abgebaut, um das Land unternehmensfreundlicher zu machen.“
Diesen Beitrag teilen: