DPAM: Extreme Zustände an den Finanzmärkten sind ein Teil der Reise

Peter De Coensel, CEO von DPAM
Marktkommentar

Gleich zu Beginn der Pandemie im ersten Quartal 2020 waren Anleger mit extremer Marktvolatilität sowie extremen geld- und finanzpolitischen Initiativen konfrontiert.

25.11.2021 | 08:53 Uhr

Sie mussten zudem mit extrem schwankenden Wirtschaftsindikatoren fertig werden. Auch aktuell müssen sich Anleger mit Fragen zu extremen Bewertungsniveaus an den Renten- und Aktienmärkten auseinandersetzen. Hinzu kommt die heftige Entwicklung der vierten Welle von COVID-Infektionen in vielen europäischen Ländern.

Bei vielen Anlegern macht sich eine gewisse Müdigkeit breit. Am Rande zeigt sich auch die Angst, die durch die zunehmende Ungewissheit über das, was vor uns liegt, verursacht wird. Das Tempo des Wandels ist hoch, die Menschen mögen Innovationen. Aber in dem Moment, in dem sich der Wandel zu sehr beschleunigt, stellt sich Unbehagen ein. Das anhaltende Arbeiten von Zuhause wirkt sich auf unseren Lebensstil aus und belastet die Work-Life-Balance in einer Weise, die wir noch gar nicht ganz erfassen können.

Gehen wir kurz auf drei Extreme ein. Zum einen gibt es die Auswirkungen auf die Volkswirtschaften im Zuge eines Innovationsschubs und in Bezug auf die Anpassung an die globale Erwärmung bzw. deren Eindämmung. Zweitens fragen wir uns, wann die Anleihenmärkte in der Inflationsrealität ankommen, oder liegt dieser Moment bereits hinter uns? Drittens stellt sich die Frage, ob COVID19, inzwischen als COVID21 bezeichnet, zu einem weiteren „März-2020-Moment“ führt. Macht uns die Hoffnung blind?

Die Beschaffenheit unserer Volkswirtschaften verändert sich rasant. Bahnbrechende neue Dienstleistungen und Produkte wachsen aggressiv und sorgen für Disruption in Geschäftsmodellen, die nur langsam reagieren oder anpassen. Unter solchen Bedingungen folgt die Produktivität einer J-Kurve. Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage sind ein wiederkehrendes Merkmal. Dienstleistungen sind mit einem Missverhältnis zwischen den Qualifikationen der Arbeitskräfte konfrontiert. Bei Gütern gibt es einen Nachholbedarf (z.B. bei Halbleitern) oder Substitutionseffekte (z.B. Ungleichgewichte im Energiebereich), die zu anhaltenden Engpässen im Bereich Angebot/Nachfrage führen.

Aufschlussreiche Beispiele finden sich in der Automobil- und Halbleiterbranche. Unternehmen wie Tesla oder Rivian mit Sitz in den USA sowie Nio mit Sitz in China weisen eine Marktkapitalisierung von 1,14 Billionen Dollar, 115 Milliarden Dollar und 66 Milliarden Dollar auf. Die meisten erwarten, dass VW, GM oder Ford aufholen, da sie ihre Produktion von Elektrofahrzeugen in den nächsten zehn Jahren aggressiv steigern werden. Eine zunehmende Zahl von Experten gibt jedoch düsterere Prognosen ab. Sie sind der Meinung, dass Äpfel mit Birnen verglichen werden. Die Marktkapitalisierung von VW, GM und Ford liegt bei 133, 89 bzw. 77 Milliarden Dollar. Investoren werten die neuen, reinen Elektroauto-Geschäftsmodelle als Technologieunternehmen und nicht als traditionelle etablierte Automobilkonkurrenten. Tesla wandelt angeblich auf den Spuren von Amazon. Es sollte uns nicht überraschen, dass einige weniger agile etablierte Unternehmen der kreativen Zerstörung zum Opfer fallen. Bei den Halbleitern ist der Kurs der Nvidia Corporation, die 3D-Grafikprozessoren entwirft, entwickelt und vermarktet, in den letzten fünf Jahren jährlich um 70 % gestiegen (kumulativ um 1.320 %). Intel Corporation hat seit November 2016 pro Jahr um 10 % zugelegt (60 % kumulativ). Und warum? Die einfache Antwort ist, dass es sich für einen anderen strategischen Weg entschieden hat. Nvidia erlangte eine Dominanz bei Hochleistungs-Chips, die in Computerspielen verwendet werden. Durch Fusionen und Übernahmen hat Nvidia schnell Zugang zu Chips mit Schwerpunkt auf künstlicher Intelligenz (KI) und Cloud-Computing gefunden und Innovationen eingeführt. Außerdem lagerte das Unternehmen die Produktion an die ‚Taiwan Semiconductor Corporation‘ aus. Letztere stellt mehr als die Hälfte der weltweiten Chips her. Intel fehlte es an Innovationskraft im Bereich ‚Chips der nächsten Generation‘. Intel ist branchenübergreifend tätig und verfügt über neun Produktionsstätten auf der ganzen Welt. Die Ähnlichkeit mit dem Beispiel der Autohersteller ist frappierend. In Bezug auf Anleihenfinanzierung sind die Unterschiede weniger offensichtlich. Es bleibt die Frage, inwieweit das Bilanzrisiko in den relativen Kreditspreads der einzelnen Sektoren angemessen eingepreist ist. Wenn man anfängt zu recherchieren, stößt man auf viele weitere Sektoren, die durch Disruptoren gegenüber etablierten Unternehmen gespalten werden. Die Auswirkungen des Klimawandels durch zunehmende Regulierung und veränderte Kapitalfinanzierungsstrategien führen zu einer noch höheren Komplexität. Geschäftsmodelle, Unternehmensfinanzierung und Erfolgsfaktoren befinden sich in einem ständigen Wandel. Die oben beschriebenen komplexen Gleichungen könnten einen Hinweis darauf geben, warum die Märkte neue historische Höchststände erreichen. Extreme sind Teil der Reise. Eine Reise, auf der Digitalisierung, Automatisierung, (nachhaltige) Datenwertschöpfungsketten, Netzwerkökonomie sowie Klimawandelanpassungs- und -abschwächungsstrategien eine zentrale Rolle spielen.

Nach einer 30-jährigen Ära der Disinflation können die Zahlen für die Gesamtinflation und die Kerninflation mit dem Etikett „extrem“ versehen werden. Ehrlicherweise erwarten die Finanzmärkte heute nicht mehr, dass sich die Inflation schnell in Richtung der von den meisten Zentralbanken der Industrieländer gesetzten Inflationsziele von 2,00 % orientiert. Die Notenbanker rufen zur Geduld auf und lassen sich von den Märkten nicht zu einer radikalen Straffung drängen. Viel wurde geschrieben über den Nachholbedarf und die Intensität der Unterbrechung der Versorgungsketten und deren Behebung. Tatsache ist, dass die Finanzmärkte eine über dem Inflationsziel liegende Phase eingepreist haben. In den USA ist die Kurve der Breakeven-Renditen solide invertiert. Bedeutet: „Die Inflation könnte sich verschärfen, bevor sie sich abschwächt“. Die Inflationserwartungen für 2, 5, 10 und 30 Jahre liegen bei 3,40, 3,04, 2,65 und 2,44 %. Im Wesentlichen erwartet der US-Staatsanleihenmarkt, dass das Inflationsthema langfristig dominieren wird, hat sich aber eindeutig dafür entschieden, diese Botschaft durch eine negative reale Renditekurve zu verdeutlichen. Die Märkte akzeptieren 2-, 5-, 10- und 30-jährige Realrenditen von -2,52, -1,82, -1,12 und -0,52 %. Kupons und auch Anleihen selbst passen sich an die realisierte Inflation an. Zum ersten Mal seit ihrer Einführung im Jahr 1997 haben inflationsgebundene Anleihen als Diversifizierungskomponente in Anleihenportfolios einen Volltreffer gelandet. Seit Jahresbeginn hat ein globales Exposure in diversifizierten inflationsgebundenen Staatsanleihen in lokaler Währung eine Rendite von 7,70 % erzielt. Zwischen 2000 und 2019 wurde dieser Anleihensektor stets vernachlässigt. Heute haben viele Anleger den Anschluss verpasst. Viele verstecken sich hinter einem „Zu spät zur Party gekommen“ und „das Exposure ist zu gering“ und entscheiden sich dafür, unterinvestiert zu bleiben und wenig über diesen Sektor zu sprechen.

Zum Schluss noch einige Worte zu COVID. Eine sich entwickelnde vierte Infektionswelle und der daraus resultierende Druck auf die medizinische Infrastruktur und das Personal sind eine bedrückende Mischung von Ereignissen. Die Auffrischungsimpfprogramme werden in der gesamten EU ausgeweitet, da die Wirksamkeit des Schutzes schneller abnimmt als ursprünglich erhofft. Antivirale Medikamente oder Antikörper-Behandlungen werden sich erst im Laufe des Jahres 2022 durchsetzen. Die Delta-Variante ist weiterhin allgegenwärtig. Neue COVID-Varianten wie Delta Plus werden zur gleichen Familie gezählt. Die Frage, die sich jeder stellt, lautet: „Was droht in Zukunft auf dem COVID-Schlachtfeld?“. Dieses mulmige Gefühl überkam die Märkte am vergangenen Freitag. Risikoaversion machte sich auf den Kern-Staatsanleihenmärkten breit. Die 10-jährigen US-Renditen fielen erneut in Richtung 1,50 %, während 10-jährige Bundesanleihen bei -0,35 % schlossen. Jeder erinnert sich noch gut an den 15. März, als die EU in den Lockdown ging. Seitdem liegt die 10-jährige Bundesanleihe bei durchschnittlich -0,39 %... Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist.

Es ist schwer abzuschätzen, was als nächstes passiert. Die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Marktschocks ist begrenzt, da der Überraschungsfaktor verschwunden ist. Allerdings könnten längere Phasen impliziter Lockdowns in Kombination mit der ultravorsichtigen Haltung in allen asiatischen Ländern für die Wachstumsschätzungen für 2022 schädlich sein. Die Natur der zyklischen Volatilität verlangt nach maßvollen und nicht nach brutalen Korrekturen. Wir sollten uns daran gewöhnen, bei der Zusammenstellung von Anlageportfolios eher eine größere Anzahl von Szenarien einzubeziehen, da wir in interessanten, aber extremen Zeiten leben.

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