ODDO BHF: Deal or no Deal - Letzte Chance auf ein Abkommen

ODDO BHF: Deal or no Deal - Letzte Chance auf ein Abkommen
Marktausblick

Der aktuelle EU-Gipfel stellt die letzte Chance dar, den bislang erfolglosen Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien eine neue Wende zu geben.

19.10.2020 | 11:40 Uhr

Immerhin forderten die Regierungschefs ihren Unterhändler gestern auf, die Gespräche fortzusetzen. Sollten diese dennoch scheitern, scheidet Großbritannien mit dem Ende der Übergangsphase am 31. Dezember 2020 endgültig und ohne Handelsabkommen aus dem Binnenmarkt der Europäischen Union aus. Da die jeweiligen Parlamente noch Zeit für die Ratifizierung eines möglichen Vertrags benötigen, müssten sich die Parteien jetzt sehr schnell – noch im Oktober – verständigen. Doch mit der Einbringung eines neuen Binnenmarktgesetztes ins britische Unterhaus hat Premierminister Boris Johnson auf Seiten der EU viel Vertrauen verspielt. Das umstrittene Gesetz soll Grenzkontrollen zwischen Nordirland und dem Rest Großbritanniens verhindern, sollte bis Ende des Jahres kein Freihandelsabkommen mit der EU vereinbart werden können.

Doch genau diesen Kontrollen in der Irischen See hatte die britische Regierung Anfang des Jahres in der Austrittsvereinbarung mit der EU zugestimmt. Aber auch in anderen Bereichen ist kaum Kompromissbereitschaft zu erkennen. Bei den wichtigsten Streitpunkten stocken die Verhandlungen seit Monaten: dem künftigen Zugang von (vor allem französischen) Fischern aus der EU zu britischen Gewässern, der Forderung der EU nach Sicherstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen als Gegenleistung für den Zugang zum EU-Binnenmarkt und dem Schlichtungsmechanismus bei eventuellen Streitigkeiten.

Wenn sich die Parteien nicht rechtzeitig einig werden, wird der Handel zwischen der EU und Großbritannien ab dem nächsten Jahr wieder nach den Regeln der Welthandelsorganisation (Meistbegünstigungsprinzip) ablaufen. Deutsche Unternehmen verzeichnen schon seit dem Brexit-Referendum 2016 rückläufige Exporte mit deutlichen Umsatzeinbußen nach Großbritannien. Besonders betroffen vom Rückgang der Ausfuhren sind die Automobilbranche, das Finanz- und Versicherungswesen, die Verkehr- und Logistik- sowie die Elektroindustrie. Unter den Bedingungen des Meistbegünstigungsprinzips würden die europäischen Exporte nach Großbritannien dann mit einem durchschnittlichen Zollsatz von gut 5 Prozent belastet, die europäischen Importe aus dem Vereinigten Königreich mit knapp 5 Prozent. Unter solchen Voraussetzungen würde der Außenhandel mit der Insel in den kommenden Jahren vermutlich weiter schrumpfen.

Anteil EU-Exporte


Die britische Wirtschaft dürfte von einem Austritt ohne Handelsabkommen weitaus stärker getroffen werden. Ein schwächeres Pfund und Importzölle dürften die Inflation anziehen und die realen Einkommen schrumpfen lassen. Schon infolge der Corona-Pandemie ist die Wirtschaftsleistung Großbritanniens um mehr als ein Fünftel eingebrochen und erholte sich seitdem langsamer als erwartet. Strengere Maßnahmen zur Eindämmung des Virus bremsen die konjunkturelle Erholung zusätzlich aus. Auch die Aussichten am britischen Arbeitsmarkt sind düster: In der zweiten Jahreshälfte dürften mindestens 650.000 Menschen ihre Jobs verlieren. Nach Schätzungen der London School of Economics (LSE) würde die britische Wirtschaft aufgrund der Corona-Krise trotz des kurzfristig scharfen Einbruchs auf lange Sicht nur rund zwei Prozent des realen BIP einbüßen. Beim No-Deal-Brexit dürften die kurzfristigen Folgen vergleichsweise moderat ausfallen.

Langfristig allerdings sind die Brexit-Folgen schwerwiegender: Mit einem Freihandelsabkommen würde der EU-Austritt, so die LSE, langfristig knapp 4 Prozent, der zunehmend wahrscheinlicher werdende ungeordnete Brexit sogar fast 6 Prozent des BIP kosten. Auf Dauer wäre der wirtschaftliche Schaden durch einen No-Deal-Brexits also etwa dreimal so hoch wie der durch die Pandemie. Das sollte die britische Einigungsbereitschaft eigentlich stärken, doch Premierminister Boris Johnson fällt es offenkundig schwer, Einschränkungen der nationalen Souveränität hinzunehmen. Vielleicht verlässt er sich auch darauf, dass die unmittelbaren Belastungen durch den Brexit hinter der Wucht der Corona-Krise verblassen.

Neue Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute und des IWF

Die wirtschaftlichen Spuren, die das Coronavirus seit dem Frühjahr hinterlässt, sind tief. Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in Deutschland, die im Frühjahr auf eine rasche, V-förmige Erholung gesetzt hatten, haben soeben ihre Wachstumsprognose auf -5,4 Prozent von zuvor -4,2 Prozent nach unten revidiert. Zudem wird die Wirtschaft im nächsten Jahr nicht wie zunächst angenommen um 5,8 Prozent, sondern lediglich um 4,7 Prozent wachsen; 2022 soll die wirtschaftliche Aktivität in Deutschland sogar nur um 2,7 Prozent zulegen. Der Erholungsprozess bleibt noch einige Zeit unvollständig. Insbesondere Branchen, die auf soziale Kontakte angewiesen sind, wie etwa die Gastronomie- und die Tourismusbranche, das Veranstaltungsgewerbe oder der Luftverkehr, können erst dann am Erholungsprozess teilhaben, wenn die Maßnahmen zum Infektionsschutz weitgehend entfallen. Dies dürfte jedoch frühestens im nächsten Jahr der Fall sein. Aber auch die Industrie leidet noch stark unter den verhaltenen Investitionen der Unternehmen hierzulande und in Exportländern.

Nichtsdestotrotz ist die Prognose der hiesigen Wirtschaftsforschungsinstitute noch einen Tick optimistischer als die aktuelle Vorhersage des Internationalen Währungsfonds. Der IWF erwartet für 2020 einen Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts in Deutschland um 6 Prozent, dem 2021 ein Anstieg um 4,2 Prozent folgt. Der Währungsfonds kommt allerdings von einer deutlich schwächeren Basis: Im Juni hatte man einen Einbruch um fast 8 Prozent befürchtet.
Dieses Muster der Aufwärtsrevision gilt nicht nur für Deutschland, sondern für die Weltwirtschaft insgesamt. Angesichts beispielloser Konjunkturhilfen und geldpolitischer Unterstützung geht der IWF davon aus, dass die Wirtschaft im Laufe des Jahres um 4,4 Prozent schrumpfen wird, die Folgen der Pandemie also besser verkraftet als im Sommer vermutet (-5,2 Prozent). Im nächsten Jahr soll das globale Wachstum dann rund 5,2 Prozent erreichen und damit das Niveau von 2019 wieder überschreiten.

In den Industrieländen allerdings wird die Wirtschaftsleistung das Vor-Krisen-Niveau im nächsten Jahr noch nicht wieder erreichen. Insgesamt werden der Weltwirtschaft im Zeitraum von 2020 bis 2025, so die Schätzung des IWF, rund 28 Billionen Dollar Wertschöpfung verloren gehen. Das größte Risiko für die Prognosen bleibt der ungewisse Pandemieverlauf. Um weiteren Rückschlägen vorzubeugen, sollten die Regierungen ihre Konjunkturhilfen nach Einschätzung des IWF nicht zu schnell zurücknehmen. Zwar dürfte die Erholung ab dem kommenden Jahr langsam und unsicher verlaufen, jedoch stellen die Fortschritte bei der Behandlung der Krankheit sowie der Impfstoff-Entwicklung gute Voraussetzungen dar.

BIP-Wachstumsraten


Vergangene Wertentwicklungen, Simulationen oder Prognosen sind kein zuverlässiger Indikator für die Zukunft. Die Rendite kann infolge von Währungsschwankungen steigen oder fallen. Etwaige Meinungsäußerungen geben die aktuelle Einschätzung des Investment Office der ODDO BHF AG wieder, die sich insbesondere von der Hausmeinung innerhalb der ODDO BHF Gruppe unterscheiden und ohne vorherige Ankündigung ändern kann.
Quellen der Grafiken: Deloitte, Statista

Diesen Beitrag teilen: