Capital Group: Politischer Wandel in den USA: Radikal oder schrittweise?

Capital Group: Politischer Wandel in den USA: Radikal oder schrittweise?
Märkte

Rund sechs Wochen vor den entscheidenden Wahlen in den USA wird eines immer deutlicher: Tiefgreifende politische Veränderungen zeichnen sich ab, unabhängig davon, welche politischen Kandidaten sich durchsetzen werden.

29.09.2020 | 08:55 Uhr

Ein Kommentar von Jared Franz


Bestimmte kritische Probleme, mit denen die Nation konfrontiert ist – zum Beispiel Einkommensungleichheit und steigende Gesundheitskosten – haben einen Wendepunkt erreicht, an dem Demokraten und Republikaner gleichermaßen Lösungen vorschlagen, die noch vor wenigen Jahren politisch untragbar gewesen wären. Die einzigen Fragen, die sich meiner Ansicht nach stellen, sind, wie schnell die politischen Veränderungen kommen werden, ob sie radikal oder schrittweise erfolgen und wie sie sich auf die Wirtschaft und die Märkte der USA auswirken werden.

Mit diesen Fragen im Hinterkopf hat sich ein multidisziplinäres Researchteam bei Capital Group kürzlich eingehend mit der Problematik beschäftigt und einige erste Schlussfolgerungen gezogen, unter anderem:

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  • In dem lang anhaltenden Konflikt zwischen Arbeitskraft und Eigentum schwingt das politische Pendel in Richtung der Arbeitskraft, jedoch ist die Wende möglicherweise nicht so stark, wie es sich die Anleger vorstellen. Trotz der Verschärfung der gesellschaftlichen Ungleichgewichte, die durch den Ausbruch von COVID-19 zutage getreten sind, gibt es zahlreiche Querströmungen, die diese Dynamik verlangsamen könnten und wahrscheinlich auch werden.
  • Einige Schlüsselthemen – wie bezahlbare Gesundheitsfürsorge, höher bezahlte Arbeitsplätze und die Auseinandersetzung mit der sich verschlechternden Infrastruktur der Nation – sind nicht nur im Fokus der amerikanischen politischen Linken. Die Rechte wird diese wichtigen Ziele wahrscheinlich ebenfalls verfolgen, wenn auch mit völlig anderen politischen Instrumenten.
  • Beide Parteien haben während der Pandemie in Bezug auf eine konservativere Fiskalpolitik den Rubikon überschritten. Die hohen schuldenfinanzierten Staatsausgaben werden mit ziemlicher Sicherheit fortgesetzt, unabhängig davon, welche Partei an der Macht ist. Die Oppositionspartei könnte es jedoch nach den Wahlen vom 3. November politisch nützlich finden, zu einer restriktiven Finanzpolitik zurückzukehren.

Drei Bereiche der Übereinstimmung

Konjunkturerholung trotz COVID. Wenn COVID-19 nicht eingedämmt wird und es keinen Impfstoff gegen die Pandemie gibt, wird sich die Gesetzgebungsagenda 2021 auf die Konjunkturerholung konzentrieren. Je nach dem Verlauf der Pandemie könnten zusätzliche Konjunkturpakete sowie andere finanz- und geldpolitische Konjunkturmaßnahmen auf den Weg gebracht werden. Wie sehr sich die politischen Linien verwischt haben, unterstreicht der Vorschlag eines republikanischen Senators im April, wonach die US-Bundesregierung bis zu 80 % der Löhne und Gehälter für alle Mitarbeiter von US-Unternehmen, die von staatlich verhängten Lockdowns betroffen sind, übernehmen sollte. Im Falle einer weiteren COVID-Welle im nächsten Jahr könnten weitere unkonventionelle Ansätze erforderlich sein.

Handelsspannungen zwischen den USA und China. Die Handelsspannungen zwischen den USA und China gelten zwar weitgehend als ein von Trump verursachter Konflikt, würden jedoch unter einer Regierung Biden nicht wie durch ein Wunder verschwinden. Ein wachsender parteiübergreifender Konsens in Washington betrachtet die angespannten Beziehungen zwischen den USA und China als eine langfristige Realität, die die handels- und außenpolitischen Entscheidungen für viele Jahre prägen wird. Ein Bereich, in dem weitgehend Einigkeit herrscht, ist die Notwendigkeit eines stärkeren Schutzes des geistigen Eigentums, dem in einer demokratischen oder republikanischen Regierung wahrscheinlich hohe Priorität zukommen wird.

Regulierungen im Technologiesektor. Beide Parteien haben Ärger über die großen Technologieunternehmen zum Ausdruck gebracht und kartellrechtliche Maßnahmen, strengere Vorschriften und eine verstärkte Aufsicht in den Bereichen Schutz der Privatsphäre und Unterdrückung politischer Standpunkte in Aussicht gestellt. Ein Aufbrechen der angenommenen Technologiemonopole könnte unter einer linksgerichteten Regierung wahrscheinlicher sein, aber es gibt auf beiden Seiten des politischen Spektrums Befürworter dieses Schrittes.

Vier Bereiche für Meinungsverschiedenheiten

Steuerpolitik. Die Besteuerung ist zweifellos die größte Quelle der Meinungsverschiedenheiten. Die Demokraten schlagen höhere Einkommensteuern für Unternehmen und vermögende Privatpersonen vor, zusammen mit einer Erhöhung der Kapitalertragssteuer, und die Republikaner plädieren für drastischere Steuersenkungen im Anschluss an den Tax Cuts and Jobs Act von 2017. In der politischen Linken gibt es auch starke Unterstützung für eine Erhöhung des staatlichen Mindestlohns, während die Rechte es möglicherweise vorzieht, die Zuwanderung zum Niedriglohnsektor zu begrenzen, um auf diese Weise die Löhne der Arbeitnehmer zu erhöhen.

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Bildung. Die Versuche, das Problem Bildungsungleichheit zu lösen, sind in höchstem Maße parteigebunden, und eine demokratischen oder republikanischen Regierung wird wahrscheinlich jeweils einen deutlich anderen Kurs einschlagen. Eine rechtsgerichtete Regierung würde Initiativen zur Schulwahl und zur Verringerung des Einflusses der Lehrergewerkschaften bevorzugen, während eine linksgerichtete Regierung wahrscheinlich größere Investitionen in staatliche Schulen, die frühkindliche Entwicklung und einen Schuldenerlass für Studenten anstreben würde.

Einwanderung. In der Einwanderungspolitik, einem weiteren wichtigen parteipolitischen Thema, wird es wahrscheinlich zu einem deutlichen Wandel kommen, wenn die Demokraten das Weiße Haus und den Senat gewinnen. Es könnte einen einfacheren Weg zur Staatsbürgerschaft für schätzungsweise 11 Millionen in den USA lebende Immigranten ohne Papiere geben, sowie einen erweiterten Schutz für Asylsuchende. Eine republikanische Regierung würde wahrscheinlich weiterhin die Sicherheit an den Grenzen erhöhen und versuchen, die Zuwanderung zum Niedriglohnsektor einzuschränken.

Supreme Court. Mit dem Ableben der Supreme Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg ist ein neues Problem aufgetaucht, das die Dynamik der Wahl dramatisch verändern könnte. Die Ernennung von Ginsburgs Nachfolger bzw. Nachfolgerin wird wahrscheinlich in den letzten Wochen des Wahlzyklus 2020 eine entscheidende Rolle spielen.

Auswirkungen auf Anlagen

Aktien. Die Aktienmärkte dürften weiterhin von dem Niedrigzinsumfeld profitieren, und zwar in allen vier wahrscheinlichen Wahlszenarien – Trump gewinnt und die Republikaner behalten die Kontrolle über den Senat; Trump gewinnt und die Demokraten übernehmen den Senat; Biden gewinnt und die Demokraten übernehmen den Senat; Biden gewinnt und die Republikaner behalten die Kontrolle über den Senat. Wachstumsorientierte Aktien sind besonders attraktiv, da sich die Zinssätze auf historischen Tiefstständen befinden. Angesichts der wirtschaftlichen Unsicherheit, die die Zentralbanken überhaupt erst zu ihrer Null- und Negativzinspolitik veranlasst hat, ist jedoch mit Phasen extremer Volatilität zu rechnen.

Rentenwerte. Die Renditen für 10-jährige US-Staatsanleihen werden bei drei der vier Szenarien wahrscheinlich im Bereich von 0,5 % bis 1,5 % bleiben. Die Ausnahme könnte das so genannte „Blaue Welle“-Szenario sein – Biden gewinnt das Weiße Haus und die Demokraten den Senat – In diesem Fall könnten die Anleiherenditen steigen (auf 1,5 % bis 2 %), da es für eine demokratischen Regierung leichter ist, ihre politische Agenda voranzutreiben, was das Wirtschaftswachstum in den USA ankurbeln könnte.

Sektorbezogene Auswirkungen. Zu den Sektoren und Unternehmen, die von der deutlichen politischen Veränderung im Falle eines „Blaue Welle“-Szenarios profitieren können, gehören im Großen und Ganzen die Betreiber von medizinischen Versorgungsplänen, umweltorientierte Unternehmen (Solar-, Wind-, Elektrounternehmen usw.), Discounter und kleine Technologiefirmen. Eine rechtsgerichtete Regierung würde wahrscheinlich ein vergleichsweise günstigeres Umfeld für pharmazeutische Unternehmen, in den USA ansässige Produktionsunternehmen und die Energiebranche fördern.

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Dennoch sollte keinesfalls vergessen werden, dass sich der Versuch, die Märkte auf der Grundlage der erwarteten politischen Ergebnisse zu „timen“, als extrem schwierige Aufgabe erwiesen hat. Die Geschichte hat gezeigt, dass langfristig orientierten Anlegern besser gedient ist, wenn sie investiert bleiben – auch in Zeiten erheblicher politischer Volatilität –, da die Märkte selbst in den turbulentesten Wahlzyklen zu Stärke tendieren.

Zur Person

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Jared Franz - Wirtschaftswissenschaftler

Jared ist Wirtschaftswissenschaftler für die USA und Lateinamerika. Er verfügt über 14 Jahre Erfahrung in der Investitionsbranche. Bevor er 2014 zu Capital kam, war Jared Leiter der internationalen makroökonomischen Forschung bei der Hartford Investment Management Company und ein internationaler und US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler bei T. Rowe Price. Er hat einen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften von der University of Illinois und einen Bachelor-Abschluss von Northwestern.

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