Capital Group: Was sind die wichtigsten Innovationen für das nächste Jahrzehnt?

Capital Group: Was sind die wichtigsten Innovationen für das nächste Jahrzehnt?
Interview

In unserem Interview mit dem Aktienportfoliomanager Martin Romo teilte uns dieser seine Gedanken zu Anlagen im aktuellen Umfeld, den langfristigen Auswirkungen der Pandemie auf verschiedene Branchen sowie den seiner Ansicht nach wichtigsten Innovationen der nächsten zehn Jahre mit.

05.05.2021 | 11:35 Uhr

Erwarten Sie, dass sich die jüngste Rally in zyklischeren Bereichen des Marktes fortsetzt?

Als ehemaliger chemischer Analytiker habe ich viel Zeit darauf verwendet, mich gedanklich mit den konjunkturellen Auswirkungen zu beschäftigen. Davon gibt es eindeutig einige, die schwer ins Gewicht fallen. Wir haben eine Finanz- und Geldpolitik, die dem Aktienmarkt unglaubliche Unterstützung bietet. Als ehemaliger Konjunkturanalyst bin ich allerdings auch ein bisschen vorsichtig. Die derzeitige Begeisterung des Marktes im Hinblick auf eine Erholung und Rückkehr zur Normalität finde ich ziemlich überraschend.

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Meiner Meinung nach bringt COVID in einigen Branchen wie Gewerbeimmobilien und Energie eine Art Massensterben zukünftiger Fundamentalwerte hervor. Verstehen Sie mich nicht falsch – ich glaube nicht, dass diese Branchen verschwinden werden. Doch die Grundlage für Vorhersagen über die Fundamentaldaten der entsprechenden Unternehmen hat sich unwiderruflich verändert.

Einige Wissenschaftler vertreten schon lange die Theorie, dass das Aussterben der Dinosaurier auf einen gigantischen Meteoriteneinschlag auf der Erde vor rund 65 Millionen Jahren zurückzuführen war. Was auch immer der Auslöser war: Die Dinosaurier haben die dramatischen Veränderungen des Klimas nicht überlebt, warmblütige Säugetiere hingegen schon. Einige Branchen werden sich nach COVID anpassen und gedeihen; andere sind vielleicht eher wie Dinosaurier und werden verkümmern.

Sehen Sie die COVID-Pandemie als Wendepunkt an, der die Art, wie wir leben und arbeiten, wesentlich verändern wird?

Ich habe viel Zeit mit den Investmentanalysten von Capital verbracht und versucht, Klarheit darüber zu gewinnen, wie die Pandemie das Verhalten der Menschen dauerhaft verändern wird und welche Folgen das unter Umständen für die langfristigen Fundamentaldaten verschiedener Branchen hat.

Wir haben herausgefunden, dass bestimmte Unternehmen die Pandemie als Gelegenheit nutzen, sich anzupassen – wie Säugetiere also, und nicht wie Dinosaurier –, indem sie Daten, Technologie und Analysen einsetzen, die ihnen eine wesentlich wettbewerbsstärkere Position verschaffen und uns dabei helfen könnten, einige der wichtigsten Probleme anzugehen, mit denen wir in den USA heute konfrontiert sind.

Die Gesundheitsversorgung steht beispielsweise an einem bedeutenden Wendepunkt und verändert sich zum Guten. Die Regulierungsbehörden haben antiquierte Regelungen im Zusammenhang mit „persönlichen“ Untersuchungen gelockert, und jetzt führen Ärzte überall virtuelle Visiten durch. Auch im Bereich tragbarer Überwachungsgeräte beobachten wir spannende Innovationen. Dazu gehören Geräte zur permanenten Blutzuckerüberwachung, Insulinpumpen, implantierbare EKG-Loop-Recorder und vernetzte Schlafapnoe-Geräte, die es Ärzten in zunehmendem Maße ermöglichen, Patienten aus der Ferne zu überwachen.

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Können Sie uns an einigen Ihrer Überlegungen zu den wichtigsten Innovationen der nächsten 10 Jahre teilhaben lassen?

Halbleiter sind meiner Meinung nach die wichtigste Innovation unserer Generation überhaupt. Diese Innovation stammt aus dem Zweiten Weltkrieg, ist also nichts Neues. Doch genau wie die Entkörnungsmaschine für Baumwolle, die Eisenbahn, die Elektrizität, Öl und Petrochemikalien sowie die Massenproduktion hat sie das Potenzial, die industrielle Entwicklung auf Jahrzehnte hin zu bestimmen. Halbleiter sind zu einem zentralen Bestandteil von Telekommunikation, Internet, Datenanalyse, künstlicher Intelligenz, Autos und physischen Produkten aller Art geworden.

Seit ungefähr 1965 verdoppelt sich die Rechenleistung von Halbleitern etwa alle 18 Monate bis zwei Jahre – das ist das so genannte Mooresche Gesetz. Mittlerweile sind wir bei astronomischen Werten angelangt. Und darum beeinflussen sie fast alles, was wir tun. Genauso wie der Zweite Weltkrieg einen Sprung nach vorne für die Massenproduktion bedeutete, ist COVID meiner Ansicht nach ein großer Sprung für die Leistungsfähigkeit von Halbleitern.

Die Knappheit an Chips in der letzten Zeit ist ein typisches Beispiel. Die Unternehmen kriegen nicht genug davon. Autohersteller haben mit ihren Produktionskosten zu kämpfen, und die Länder sagen bereits: „Hierbei handelt es sich um eine strategische Ressource, und wir müssen entweder unsere eigene Industrie aufbauen oder Wege finden, die Produktion abzuschöpfen.“

Nehmen wir zum Beispiel den Spezialanbieter Williams-Sonoma, der kürzlich vermeldete, dass sein Online-Umsatz den Umsatz im stationären Handel überflügelt hat. Das Unternehmen nimmt das zum Anlass, seine Mietverträge neu zu verhandeln und die wirtschaftlichen Strukturen seiner stationären Läden im Zuge des zunehmenden Online-Verkehrs zu verändern. Innerhalb eines Jahres gelang dem Unternehmen der Umstieg vom Offline- auf den Online-Handel, und es gibt kein Zurück.

Unternehmen wie Mondelez, das Milliarden US-Dollar und einen Großteil seines Werbebudgets ins Fernsehen investiert hat, erzielen mittlerweile 25 % mehr Rendite im Internet und nochmal 40 % mehr, wenn sie Google und Facebook als primäre Werbequellen betrachten.

Und bei den Streamingdiensten ist Netflix mit Ausgaben von über 20 Milliarden USD zum weltweit größten Entwickler von Inhalten geworden.

Dieser Innovations- und Effizienzschub wurde durch Halbleiter möglich gemacht. Die Erhebung von Daten und die Analyse dieser Daten, um ein besseres Produkt zu entwickeln, das mehr Verbraucher anzieht, durch deren Nutzung wiederum weitere Daten erzeugt werden, lässt einen positiven Kreislauf von Verbesserungen und breiterer Anwendung entstehen. Hierdurch sinken die Kosten für die Nutzerbindung und die Effektivität unserer gesamten Aktivitäten steigt. Meiner Meinung nach stehen wir auch noch ganz am Anfang dieses Zyklus.

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Was denken Sie über das Wachstumspotenzial von Streaminginhalten und Videospielen?

Ich erinnere mich, wie ich mit 10 oder 11 Jahren stundenlang an meinem Atari 2600 gespielt habe. Heutzutage profitieren Gamer von der unbegrenzten Nutzung in einem interaktiven Format. Angesichts der Relevanz und der potenziellen Übernahme dieser Art der Unterhaltung durch die nächste Generation von Verbrauchern ist die potenzielle Dollarrendite überzeugend.

Weltweit stiegen die Ausgaben für Spiele im letzten Jahr um 20 % auf 180 Milliarden USD. Vergessen wir dabei nicht, dass die globale Filmindustrie 2019 mit 100 Milliarden USD ihren Höhepunkt erreicht hat. Wir haben es hier also mit einer dieser stillen Erfolgsgeschichten zu tun, die scheinbar über Nacht entstehen, eigentlich aber gar nicht so plötzlich auftreten. Und das Faszinierende daran ist, dass Spiele nicht nur auf Teilnahme abzielen. Sie sind auch ein Zuschauersport, der es mit dem Broadway und der NBA aufnehmen wird. Viele dieser Online-Anbieter schließen zusätzlich zu Werbeverträgen Jahresverträge in Höhe von mehreren Millionen Dollar ab.

Bedenken Sie, dass bei Amazon Twitch, einem Übertragungskanal, 1,9 Milliarden Stunden pro Monat auf das Zuschauen entfallen. Die NFL kommt im Vergleich auf 1,65 Milliarden Stunden pro Monat. Das ist beachtlich – und diese Spiele werden immer realistischer. Ein Unternehmen mit Namen Roblox vertritt eine Generation von Kindern – die meisten von ihnen jünger als 15 Jahre –, die nicht nur mit ihren Freunden in diesem gemeinsamen Universum spielen, sondern tatsächlich Spiele füreinander entwickeln.

Unternehmen, die diese Chancen nutzen können, haben eine fundierte Basis. Daher werde ich den Gaming-Bereich aufmerksam dabei beobachten, wie er auf andere Arten der Unterhaltung übergreift.

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Wann wird das Leben Ihrer Meinung nach zur „neuen Normalität“ zurückkehren?

Unser Geschäft besteht darin herauszufinden, „was“ geschieht, und nicht „wann“. Die meisten unserer Wettbewerber suchen nach dem „wann“. Wann ist COVID vorbei? Wann steigen die Zinsen? Neil deGrasse Tyson hat Berühmtheit erlangt mit seiner Diskussion über den Unterschied zwischen Klimawandel und Wettervorhersage. Und er führt als tolles Beispiel an, wie er mit seinem Hund an der Leine am Strand spazieren geht. Er geht auf eine Fahne zu, und sein Hund wackelt hin und her. Dabei sagt er: „Ich bin der Klimawandel und der Hund ist die Wettervorhersage.“ Unser Vorteil bei Capital Group ist, dass wir vorausschauend sind und uns Elemente des Klimawandels anschauen, die innerhalb eines Unternehmens oder innerhalb einer Branche wirken, doch wir blicken auch zurück, um unsere Lektion aus der Geschichte zu lernen.

Sie werden überrascht sein, wie viel wir über die Prinzipien der Gründung unseres Unternehmens im Jahr 1931 sprechen und wie wir noch immer diese Verpflichtung zum Research, zu einem langfristigen Fokus und zu zielorientiertem Investieren aufrechterhalten. Wir nehmen die Verantwortung, Hüter des Kapitals unserer Kunden zu sein, ausgesprochen ernst. Wir haben 90 Jahre, 13 Börsen-Crashs, 15 Rezessionen, 16 Präsidenten, einen Weltkrieg und jetzt noch eine Pandemie hinter uns. Aber unsere Prinzipien bleiben unverändert. Das ist ein eindrückliches Zeugnis für den Erfolg unseres Modells. Um bei meiner Metapher zu bleiben, denke ich, wir sind eher wie Säugetiere als wie Dinosaurier und passen uns an eine sich verändernde Welt an, ohne unsere grundlegende DNA aufzugeben.

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