Durch den Russland-Ukraine-Konflikt achten wir wieder wesentlich
mehr auf politische Risiken. Wie gehen Sie beim Investieren dieses Thema
an?
Kohn: Wenn wirInvestmententscheidungen
treffen, analysieren wir immer auch themenorientierte
Risiko-Ertrags-Profile. Das politische Risiko ist eines dieser Themen,
und zwar ein sehr wichtiges – und es spielt nicht nur in Ländern wie
Russland eine Rolle.
Leider gibt es weltweit viele weitere
territoriale Konflikte, beispielsweise zwischen Türken und Kurden, in
Marokko und in der Westsahara. Es zählt zu unseren Aufgaben, über solche
Situationen stets gut informiert zu sein und ihre Auswirkungen zu
kennen.
Auch Regierungswechsel sind eine Form von
politischem Risiko, das wir genau beobachten. Der Ausgang einer Wahl
kann weitreichende Folgen haben. Das berücksichtigen wir bei unseren
Investmentüberlegungen. Vor allem in Emerging Markets wie Brasilien sind
Regierungswechsel manchmal folgenreich, aber auch in Industrieländern
wie den USA.
Ein extremeres Risiko ist, dass wir unsere
Portfolios nicht mehr managen können. Dies kann aufgrund von Sanktionen
der Fall sein. Auch diesen wichtigen Aspekt beobachten wir. In diesem
Zusammenhang besteht zudem das Risiko, dass ein Emittent keinen
Marktzugang mehr hat. Das ist vor allem für ausländische Investoren von
Bedeutung. Diese Risiken sind eine erhebliche Gefahr, weil durch sie
Teile unserer Portfolios möglicherweise nicht mehr gehandelt werden
können.
Durch den Russland-Ukraine-Konflikt sind diese
Themen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Aber tatsächlich
beobachten wir im Rahmen unseres Anlageprozesses für
Emerging-Market-Papiere immer verschiedene politische Risiken in vielen
Ländern.
So ist China der größte Emerging Market, und
lange haben wir hier bei Investitionen vor allem auf die Entwicklung der
Beziehungen mit den USA geachtet. Bei unseren Kontrollen betrachten wir
die Risiken im Zusammenhang mit chinesischen ADRs1 und Unternehmen mit einer VIE-Struktur2, einschließlich der Risiken von Sanktionen beider Seiten.
Wir schauen, wie hoch die Risiken sind, um
festzustellen, welchen Einfluss sie auf unsere Anlagen haben können.
Besondere Ereignisse können das Ausmaß dieser Risiken verändern, sodass
wir unsere Analysen kontinuierlich anpassen müssen.
Spence: Emerging-Market-Anlagen sind
Investitionen in Länder mit sehr unterschiedlichen politischen, zum Teil
autokratischen, Regimen. Der Angriff Russlands hat einige der sonst
eher weniger häufigen Gefahren von Anlagen in Ländern verdeutlicht, in
denen politische Entscheidungen kaum kontrolliert werden.
Dennoch würde ich die Invasion Russlands in die
Ukraine eher als Schwarzen Schwan bezeichnen als als ein ständiges
Risiko. Wir wussten von Anfang an, dass Investments in Russland mit
einem bestimmten Risiko verbunden sind, und hatten uns trotz der sehr
guten Fundamentaldaten des Landes vorsichtig positioniert. Mit dem
Ausmaß der Invasion in die Ukraine haben wir aber nicht gerechnet.
Geschwindigkeit und Ausmaß der Ereignisse haben
dazu geführt, dass wir jetzt noch genauer auf autokratisches Verhalten
achten und uns Gedanken darüber machen, wie wir es in Zukunft noch
besser erkennen können. Allerdings besteht die Gefahr, dass der Versuch,
seltene Ereignisse dieser Art zu prognostizieren, zu unausgewogenen
Analysen führen kann und dazu, dass man die tatsächlichen Probleme einer
Volkswirtschaft aus den Augen verliert.
Die Risiken von Emerging-Market-Investments sind
vielfältig und komplex. China ist ein typisches Beispiel. Wenn man in
China investiert, hat man es mit kontinuierlichen Risiken wie Wachstum
und Entwicklung, aber auch politischen und aufsichtsrechtlichen Themen
zu tun. Hinzu kommen ESG-Faktoren wie die Nachhaltigkeit der
Lieferketten, Umweltschutz sowie soziale und governancebezogene
Faktoren. Diese Risiken werden ständig abgewogen und in unsere
Investmententscheidungen eingebunden.
Politische Ereignisse gibt es überall auf der
Welt, und sie treten zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf. Aber ein
Einzelereignis sollte nicht die vielfältigen anderen wesentlichen
Investmentrisiken in den Hintergrund drängen, nur weil es die größten
Schlagzeilen macht.
Emerging-Market-Anlagen sind von Natur aus mit Risiken verbunden. Mit welchen Prozessen versuchen Sie sie zu mindern?
Kohn: An unserem Investmentprozess sind mehrere Teams beteiligt und leisten Beiträge zur Evaluierung aktueller und möglicher Risiken.
Hierbei spielt die Emerging Markets Risk Working
Group (EMRWG) eine wichtige Rolle. Sie beobachtet die Entwicklungen in
den Emerging Markets, um mögliche Geschäftsrisiken mit Einfluss auf
unsere Portfolios zu erkennen. Dabei konzentriert sie sich auf
Marktliquidität und -zugang sowie auf rechtliche und aufsichtsrechtliche
Risiken, zu denen auch Sanktionen zählen. Die EMRWG gibt der Investment
Policy Group (IPG) Empfehlungen zu Risikokontrollprozessen und
-richtlinien. Letztere ist das wichtigste Gremium für die Evaluierung
von Risikokontrollen und Grenzwerten für unsere unterschiedlichen
Portfolios.
In der EMRWG wurden Arbeitsgruppen
zusammengeführt, die sich lange mit Russland und China befasst haben.
Die neue Gruppe beobachtet ein umfassenderes
Emerging-Market-Anlageuniversum. Ihre Arbeit war ein wichtiger Teil
unserer Einschätzung und Kontrolle der Auswirkungen der russischen
Invasion der Krim 2014 auf die Risiken. Zu dieser Zeit wurden einige
russische Wertpapiere mit Sanktionen belegt, von denen sowohl Anleihen-
als auch Aktienportfolios betroffen waren.
Wichtig ist, dass sich die EMRWG nicht mit
Standardrisiken beschäftigt, die bereits von unserer Investmentanalyse
abgedeckt sind, beispielsweise mit der Frage, ob eine Anleihe bei einem
bestimmten Kurs ein attraktives Risiko-Ertrags-Profil hat. Stattdessen
beantwortet sie Fragen wie die nach Risiken, durch die möglicherweise
größere Teile des Portfolios illiquide werden. Oder die nach der Gefahr,
dass wir den Zugang zu den Währungsmärkten verlieren. Ein weiteres
Beispiel ist, ob bestimmte Länder in Zukunft von rechtlichen Schritten
wie Sanktionen betroffen sein könnten. Das hilft uns, Risikobereiche zu
definieren.
Was russische Wertpapiere anbelangt, gab es ja
bereits bei der Annexion der Krim Sanktionen. Die EMRWG hat auch unsere
Positionierung in China kontrolliert und Empfehlungen ausgesprochen.
Hier gilt es, Risiken aus allen Perspektiven zu betrachten.
Beispielsweise haben wir Risiken im Zusammenhang mit VIEs erkannt, die
der Gefahr aufsichtsrechtlicher Änderungen seitens der chinesischen
Regierung unterliegen. Außerdem beobachten wir ADRs, um mögliche
aufsichtsrechtliche Einschränkungen der USA einzuschätzen.
Die Strukturierung möglicher Problembereiche
hilft uns festzustellen, wo wir möglicherweise besonders aufpassen oder
handeln müssen. Manchmal führt das dazu, dass wir einige Positionen
unserer Portfolios einschränken müssen, weil die Gefahr besteht, dass
wir sie nicht mehr managen können.
Spence: Wichtig ist dabei, dass die EMRWG
mit vielen anderen Teams der Capital Group weltweit zusammenarbeitet,
nicht nur mit Investmentteams für Aktien und Anleihen. Auch Vertreter
der globalen Teams für Recht und Investmentkontrolle leisten Beiträge
dazu. Zudem kann die EMRWG bei speziellen Themen auf andere Abteilungen
des Unternehmens zurückgreifen. Dadurch profitieren wir von
unterschiedlichen Sichtweisen, Fähigkeiten und Erfahrungen, sodass die
Gruppe von außen auf die Lage blicken und verschiedene Faktoren
gegeneinander abwägen kann.
Die Arbeit der EMRWG erfolgt zusätzlich zu
unseren bestehenden Risikokontrollen. Dazu zählen Szenarioanalysen und
Stresstests. Für Anleihen werden sie von der Risk and Quantitative
Solutions Group (RQS) koordiniert. Sie sind wirksam und waren einer der
Hauptgründe dafür, dass wir trotz der guten Fundamentaldaten Russlands
vor dem Krieg dort und in der Ukraine nicht übermäßig stark investiert
waren.
Eine weitere Komponente der Analyseexpertise der
Capital Group ist unser Night Watch Team. Es führt verschiedene
Szenarioanalysen für sehr unsichere Ereignisse durch, deren
wirtschaftliche und/oder politische Folgen die Märkte stark aus dem
Tritt bringen können. Night Watch versucht nicht, die Folgen zu
prognostizieren, sondern erstellt vielmehr Modelle dazu, wie sich
bestimmte Situationen im Zeitablauf entwickeln können. Dieses Team traf
sich regelmäßig während der internationalen Finanzkrise und zum Thema
COVID-19. Zudem steuert es immer wieder aktuelle Einschätzungen der
Folgen des Russland-Ukraine-Konflikts bei.
Diese Kombination unterschiedlicher Sichtweisen
hilft uns bei unseren Investmententscheidungen. Wir können
unterschiedliche Szenarien und Kennzahlen in unsere Risikoanalyse
einbinden, die Einfluss auf unsere Investmententscheidungen hat.
Sie investieren vorwiegend in den Emerging Markets, aber welche Folgen hat der Russland-Ukraine-Konflikt weltweit?
Kohn: Diese Krise ist nicht nur für die
Emerging Markets ein Thema. Niemals zuvor wurden die Reserven Russlands
von den westlichen Regierungen eingefroren. Dieser Schritt hatte enorme
Auswirkungen auf das globale Finanzsystem. Die meisten von uns
analysierten Risiken beziehen sich auf die Emerging Markets, aber wir
betrachten sie aus Sicht des Westens. In Zukunft brauchen wir erheblich
umfassendere Analysen.
Das große globale Thema, das die Krise in den
Mittelpunkt gerückt hat, ist die Energiesicherheit. Jetzt wird sehr viel
mehr auf die Verlässlichkeit der Energielieferketten und den Zugang zu
Grundstoffen geachtet. Auf Länder-, Branchen- und Unternehmensebene wird
von nun an der Verfügbarkeit, der Vielfalt und dem Zugang zu diesen
Produktionsfaktoren erheblich mehr Aufmerksamkeit geschenkt.
Spence: Den größten Einfluss auf den
Anleihenmarkt hatte die weltweit steigende Inflation. Das war zwar schon
vor dem russischen Angriff der Fall, hat sich aber jetzt aufgrund der
Folgen für die Preise von Weizen/anderen Getreidesorten und Energie
intensiviert. Vermutlich wird die Inflation längere Zeit weltweit hoch
sein, auch in den Emerging Markets.
Auch könnte das Einfrieren der Reserven der
russischen Zentralbank im Rahmen des Sanktionspakets unseren Standpunkt
gegenüber den Reserven anderer Zentralbanken und ihrer Bedeutung für die
Kreditwürdigkeit und Schuldentragfähigkeit langfristig verändern – aber
es ist noch zu früh, um das abschließend zu beurteilen. Das Risiko des
Einfrierens ihrer Reserven könnte einige Länder vor Übergriffen
zurückschrecken lassen oder sich in höheren Risikoprämien
niederschlagen. Möglicherweise werden einige auch versuchen, ihre
Zentralbankreserven zu diversifizieren. Das gilt es im Auge zu behalten,
weil es erhebliche Auswirkungen auf die Anleihenmärkte haben könnte.
1 ADR: American Depositary Receipt. Hinterlegungsscheine für Aktien von Nicht-US-Unternehmen.
2 VIE: Variable Interest Entity. Eine Struktur,
bei der ein chinesisches Unternehmen eine Auslandstochter gründet, um im
Westen börsennotiert zu sein, damit ausländische Investoren seine
Aktien kaufen können.
Risikofaktoren, die vor einer Anlage zu beachten sind:
- Dieses Dokument ist weder Anlageberatung noch eine persönliche Empfehlung.
- Wert und Ertrag von Anlagen können schwanken, sodass Anleger ihr investiertes Kapital ganz oder teilweise verlieren können.
- Die Ergebnisse der Vergangenheit sind kein Hinweis auf künftige Ergebnisse.
- Wenn Ihre Anlagewährung gegenüber der Währung aufwertet, in der die
Anlagen des Fonds denominiert sind, verliert Ihre Anlage an Wert. Dem soll mit einer Währungsabsicherung entgegengewirkt werden, aber der Erfolg der Absicherungsstrategie wird nicht garantiert.
- Je nach Strategie können dazu auch die Risiken von Anleihen,
Emerging-Market-Titeln und/oder High-Yield-Anleihen zählen.
Emerging-Market-Anlagen sind volatil und ggf. auch illiquide.
Kirstie Spence ist
Portfoliomanagerin für Anleihen mit Spezialisierung auf,
Schwellenländer. Sie verfügt über 23 Jahre Anlageerfahrung und hat einen
Master-Abschluss mit Auszeichnung in Deutsch und internationalen
Beziehungen von der University of St. Andrews, Schottland
Victor D. Kohn ist
Aktienportfoliomanager bei der Capital Group. Er ist Präsident bei
Capital International, Inc., hat 36 Jahre Investmenterfahrung und ist
seit 35 Jahren im Unternehmen. Er hat einen MBA von der Stanford
Graduate School of Business sowie einen Bachelor und einen Master (summa
cum laude) in Industriemaschinenbau von der Universidad de Chile.
Außerdem ist er Chartered Financial Analyst®. Kohn arbeitet in Los
Angeles.
Die Ergebnisse
der Vergangenheit sind keine Garantie für künftige Ergebnisse. Wert und
Ertrag von Investments können schwanken, sodass Anleger ihr investiertes
Kapital möglicherweise nicht oder nicht vollständig zurückerhalten.
Diese Informationen sind weder Anlage-, Steuer- oder sonstige Beratung
noch eine Aufforderung, irgendein Wertpapier zu kaufen oder zu
verkaufen.
Die Aussagen einer bestimmten Person geben deren persönliche
Einschätzung wieder. Alle Angaben beziehen sich nur auf den genannten
Zeitpunkt (falls nicht anders angegeben). Einige Informationen stammen
möglicherweise aus externen Quellen, und die Verlässlichkeit dieser
Informationen kann nicht garantiert werden..
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