Capital Group: Die Welt nach Corona, mit Night Watch

Capital Group: Die Welt nach Corona, mit Night Watch
Interview

Rembrandts Meisterwerk Die Nachtwache (The Night Watch) hat uns zu einem interdisziplinären Researchansatz inspiriert. Auf dem Gemälde sieht jeder in eine andere Richtung – eine Perspektivenvielfalt, wie sie auch für uns typisch ist.

14.04.2021 | 07:11 Uhr

Sie hilft uns, Marktturbulenzen besser zu verstehen, Risiken korrekt einzuschätzen und die Chancen zu nutzen, die große Krisen mit sich bringen. Unsere Night Watch analysiert die Auswirkungen von Corona. Dabei beschränken wir uns nicht auf die kurzfristigen Folgen, sondern entwickeln Szenarien für die nächsten fünf Jahre und danach.

Interview

Warum Night Watch?

Night Watch beruht auf den Erfahrungen aus der internationalen Finanzkrise 2008/2009. Bei grundlegenden Umbrüchen wollen wir Szenarien konstruieren. Mitglieder unseres Investmentteams treffen sich, um konjunkturelle, politische und andere marktrelevante Ereignisse intensiv zu analysieren. Dies soll unseren Investoren helfen, die Risiken zu verstehen und die für Krisen oft typischen Langfristchancen zu nutzen.

Die Themen von Night Watch sind breit gefächert, vielfältig und komplex – und betreffen viele Assetklassen und Märkte. Oft sind viele verschiedene Entwicklungen denkbar. Neue Daten können oft erhebliche Auswirkungen auf die Reaktionen von Politik und Notenbanken haben und den Ausblick massiv verändern. Hinzu kommen Zweitrundeneffekte, die oft erst dann deutlich werden, wenn man die Lage aus allen Blickwinkeln betrachtet hat.

Aufgrund ihrer Struktur hat die Capital Group keine Hausmeinung. Auch Night Watch liefert keine, schafft aber einen einheitlichen Analyserahmen. Das Team trifft keine Anlageentscheidungen, sondern stellt unseren Kollegen Informationen bereit. Analysten und Portfoliomanagern soll das helfen, mögliche Entwicklungen besser zu verstehen und bessere Entscheidungen zu treffen.

Nennen Sie uns doch einige Lehren aus der internationalen Finanzkrise. Was bedeutet sie für Night Watch?

Während der internationalen Finanzkrise wurde uns immer klarer, dass die einzelnen Investmentteams unterschiedliche Perspektiven haben. Anleihenanalysten für strukturierte Produkte haben nun einmal andere Schwerpunkte als Analysten für kleine Bankwerte. Wir mussten diese Puzzleteile zusammenfügen, um sie kontinuierlich zu beobachten.

Night Watch ist eine Plattform, auf der zahlreiche Kollegen unterschiedliche Meinungen zu verschiedenen Themen austauschen können. Trotz unterschiedlicher Grundüberzeugungen und politischer Einstellungen haben sie doch die gleiche Investmentphilosophie.

Wir tragen große Verantwortung für unsere Kunden und müssen sicherstellen, dass wir Marktturbulenzen richtig verstehen. Im Rahmen von Night Watch analysieren wir daher unterschiedliche Szenarien und ihre möglichen Auswirkungen auf Finanzanlagen. Wenn sich das Investmentteam auf verschiedene Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf die Portfolios vorbereitet, kann es vorurteilsfrei handeln, ohne Confirmation Bias. Wenn wir frühzeitig über Szenarien nachdenken, können sich unsere Analysten und Portfoliomanager mental darauf vorbereiten.

Warum setzen Sie auf Szenarioanalysen, und wie funktionieren sie?

Bei Prognosen gibt es oft nur Schwarz oder Weiß. Szenarioanalysen beschreiben die Welt hingegen häufig mehrdimensional. Szenarien sind Geschichten über die Zukunft, entwickelt in einem strukturierten Prozess. Er hilft uns, intensiv nachzudenken, klassische Annahmen infrage zu stellen und letztlich bessere Entscheidungen zu treffen. Dabei gehen wir bewusst schrittweise vor und hinterfragen die Ergebnisse oft über mehrere Monate, bis wir uns sicher sind.

Wir gehen dies mit einer gewissen Demut an, denn wir wissen, dass wir die Zukunft nicht vorhersagen können. Unsere Szenarien sind nicht allumfassend, und wir geben uns auch nicht der Illusion hin, jedes Thema in allen Einzelheiten durchdringen zu können. Aber unsere Welt ist nun einmal sehr viel komplexer als eine simple 2x2-Matrix. Szenarien sind ein Weg, die Unsicherheit über die Zukunft zum Ausgangspunkt einer tieferen Analyse zu machen. Letztlich ist Night Watch ein Konzept, mit dem wir auch extreme Entwicklungen abbilden können – und ihre Auswirkungen für Investoren.

Wie lässt sich dieses Konzept auf COVID-19 anwenden?

Night Watch hat die Krise aus verschiedenen Blickwinkeln analysiert. Dabei haben wir die Auswirkungen auf Wirtschaft, Märkte und Gesundheit betrachtet, unter Beteiligung von Kollegen aus unterschiedlichen Investmentteams. Vor allem unsere Analysten aus Medizin und Pharmazie haben uns geholfen, die medizinischen und technischen Aspekte zu verstehen. Wichtig war aber auch der Input der zahlreichen Volkswirte.

Als wir Ende 2019 von unseren Kollegen in Asien erstmals vom Virus hörten, begannen wir, über dessen Folgen nachzudenken. Anfang 2020 wurde klar, dass das Virus größere Auswirkungen auf die Märkte haben könnte, als bislang vermutet. Im Februar 2020 beschlossen wir, uns auf zwei entscheidende Punkte zu konzentrieren: erstens die geld- und fiskalpolitische Reaktion, zweitens die Eindämmung der Pandemie. Wie gut würden die einzelnen Länder das Virus unter Kontrolle bringen, und wie würden die Gesundheitssysteme mit Corona zurechtkommen? Uns war klar, dass die Pandemie aus dem Ruder laufen könnte. Wir wussten aber auch, dass die Märkte bei einer hinreichend expansiven Geld- und Fiskalpolitik durchaus positiv reagieren könnten. Genau das war in den USA 2020 dann ja auch der Fall.

Im März 2020 stellten wir dann fest, dass noch mehr wichtig ist: Impfstoffe und Therapien. Wir informierten uns über alle Impfstoffe, die getestet wurden, analysierten die beteiligten Unternehmen mit ihren unterschiedlichen Ansätzen und machten uns ein Bild von den Therapieoptionen. Am Ende stand eine grobe Einschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit. Im März 2020 hielten wir es für sehr wahrscheinlich, dass im 4. Quartal 2020, spätestens aber im 1. Quartal 2021 Impfstoffe bereitstehen, und so kam es dann ja auch. Wann immer neue Zahlen vorlagen, konnten wir schnell von einem Szenario zu einem anderen wechseln, rein datenorientiert, ohne Kaffeesatzleserei.

Wie überprüfen Sie die Szenarien?

Jede Woche erstellen wir eine Tabelle, um in Echtzeit abzuschätzen, welche Szenarien am wahrscheinlichsten sind. Für COVID-19 haben wir eine eigene Datenbank aufgebaut, um anhand unserer Beobachtungen entscheiden zu können, in welchem Szenario wir uns gerade befinden. Wir nutzen etwa Zahlen zum Social Distancing und schätzen ab, wie wichtig es für die Verhinderung von Ansteckungen ist. Hinzu kommen Indikatoren für Flugbewegungen, Restaurant- besuche und Einzelhandelsumsätze.

Das vollständige Interview finden Sie hier als PDF.


Über die Autoren

Jared Franz ist Volkswirt bei der Capital Group und zuständig für die USA und Lateinamerika. Er hat 15 Jahre Investmenterfahrung und ist seit sechs Jahren im Unternehmen. Er hat einen PhD in Volkswirtschaft von der University of Illinois in Chicago und einen Bachelor in Mathematik von der Northwestern University. Außerdem ist er Mitglied des Forecasters Club of New York und der National Association for Business Economics. Franz arbeitet in Los Angeles.

Talha Khan ist politischer Volkswirt bei der Capital Group, verantwortlich für den Euroraum und allgemeine weltpolitische Fragen. Er hat zwölf Jahre Investmenterfahrung ausschließlich bei Capital. Er hat einen Master in Internationaler Volkswirtschaftslehre von der London School of Economics and Political Science (LSE) und einen Bachelor in Volkswirtschaft und Politik vom Macalester College in St. Paul, Minnesota. Khan arbeitet in London.

Julian N. Abdey ist Aktienportfoliomanager bei der Capital Group. Er hat 25 Jahre Investmenterfahrung, davon 18 Jahre bei Capital. Er hat einen MBA von der Stanford Graduate School of Business und einen Bachelor in Volkswirtschaft von der Universität Cambridge. Außerdem ist er Chartered Financial Analyst®. Abdey arbeitet in San Francisco.

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