Capital Group: Sechs Gründe für eine hohe Inflation in Europa

Capital Group: Sechs Gründe für eine hohe Inflation in Europa
Inflation

Europa steht am Scheidepunkt: Wird die Inflation weiter steigen und falls ja, wie lange? Während viele von einer vorübergehenden Inflation sprechen, skizziert Henning Busch, Managing Director für institutionelle Kunden bei Capital Group, sechs Faktoren, die seiner Meinung nach zu einer höheren Inflation führen werden:

23.11.2021 | 12:10 Uhr

1. Strukturelle Veränderungen im Energiesektor

„Die Industrie und auch die Nachfrage nach Energie steigen, zum Beispiel in Deutschland und im Vereinigten Königreich. Gleichzeitig führen sowohl konjunkturelle als auch strukturelle Faktoren zu einem Rückgang des Angebots. Europa ist nach wie vor auf fossile Brennstoffe angewiesen, und die Kombination aus sehr starker Nachfrage und geringen Reserven wird durch den langsamen Übergang zu erneuerbaren Energien noch verstärkt. Europa muss seine Kapazitäten für erneuerbare Energien ausbauen. Dies dürfte jedoch einige Zeit in Anspruch nehmen, sodass das Versorgungsproblem wahrscheinlich noch einige Jahre lang bestehen bleiben wird“, sagt Busch.

2. Ausgabelaune der Verbraucher

Die Sparquote der privaten Haushalte in der EU pendelte sich seit 2008 immer bei rund zwölf Prozent ein. Anfang 2020 verdoppelte sich diese im Zuge der Lockdowns und des ersten Konjunkturprogrammes der Europäischen Zentralbank, welches 1,85 Milliarden Euro schwer war. Als sich die Lage danach wieder zu entspannen schien, wurden diese Ersparnisse wieder teilweise aufgelöst.

Busch erklärt: „Vor dem Lockdown war der Verbrauch der Haushalte stark auf Dienstleistungen und weniger langlebige Güter ausgerichtet. Insbesondere in Europa und den USA gaben die Konsumenten das meiste Geld für Dienstleistungen wie etwa Restaurantbesuche oder Reisen aus. Das hat sich durch die Pandemie geändert. Ökonomen ringen nun mit der Frage, ob diese Veränderung des Verbrauchs vorübergehend ist und ob wir zu den normalen Mustern vor der Pandemie zurückkehren werden. Die ehrliche Antwort lautet: Wir wissen es nicht. Wenn die Nachfrage nach Gebrauchsgütern auch nach der Pandemie robust bleibt, dann gibt es wohl nicht genug Kapazitäten, um das zu produzieren, was wir brauchen – das ist ein langfristiges strukturelles Problem.“

3. Arbeitskräfte bleiben rar

„Die zunehmenden Hinweise auf einen akuten Arbeitskräftemangel in einigen Volkswirtschaften erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass sich höhere Inflationsraten auch in einem höheren Lohnwachstum niederschlagen“, sagt Busch. „Die deutschen Gewerkschaften beispielsweise zeigen sich im Vorfeld der nächsten Lohnverhandlungsrunde im Frühjahr entschlossen. Die erhebliche Abwanderung von Arbeitskräften aus den Dienstleistungssektoren während der Pandemie ist vor allem in Volkswirtschaften wie dem Vereinigten Königreich, Italien und Spanien spürbar gewesen.“

„Durch die Abwanderung von Arbeitskräften aus dem Dienstleistungssektor in Montageberufe des verarbeitenden Gewerbes kommt es in allen Branchen zu einem Mangel an Arbeitskräften. Zwar ist der Arbeitskräftemangel in der Eurozone nicht so ausgeprägt wie beispielsweise im Vereinigten Königreich, und die Löhne steigen immer noch bescheiden, aber die EZB-Politiker sind besorgt, dass der Arbeitskräftemangel und die effektive Lohnindexierung zu einem starken Anstieg des Lohnwachstums im Jahr 2022 führen könnten“, fügt Busch hinzu.

4. Versorgungsengpässe in vielen Branchen

„Man ist geneigt zu sagen, dass die Versorgungsschwierigkeiten verschwinden werden. Tatsache ist, dass wir nicht wissen, wann sie gelöst sein werden und dass es auf vielen Märkten ein viel grundlegenderes strukturelles Problem gibt“, sagt Busch.

„Einige asiatische Volkswirtschaften sehen sich einem massiven Anstieg der COVID-Fälle gegenüber und schließen zwangsweise Produktionsanlagen. Die Engpässe begannen in den USA und China, wo ein Corona-Ausbruch in einem der verkehrsreichsten Häfen zu einer mehrwöchigen Schließung führte. Auch beim Be- und Entladen von Frachtschiffen kommt es zu erheblichen Verzögerungen, und die Störung breitet sich auf viele andere Häfen weltweit aus, die für Entlastung sorgen sollen. Dies führt zu mehrwöchigen Verzögerungen bei der Lieferung von Fertigerzeugnissen, wobei viele Hersteller nicht einmal in der Lage sind, die für die Herstellung ihrer Produkte erforderlichen Teile zu erhalten.“

5. Finanzpolitik wird stimulierend bleiben

„Die Geldpolitik war in den letzten 20 bis 30 Jahren die vorherrschende Orthodoxie zur Steuerung der Nachfrage, während die Fiskalpolitik eine untergeordnete Rolle spielte. Wir befinden uns heute jedoch in einer sehr viel pragmatischeren Welt, ähnlich wie in den 1960er Jahren, als die Regierungen bereit waren, die Fiskalpolitik als Mittel für öffentliche Investitionen einzusetzen“, erläutert Busch.

Er fügt hinzu: „Wenn Deutschland beispielsweise einen Prozentsatz seines BIP für öffentliche Investitionen ausgibt und andere Länder einen ähnlichen Ansatz verfolgen, dann erhöht sich das Wachstumspotenzial dieser Volkswirtschaften mittel- bis längerfristig. Im Westen wurde erheblich zu wenig in die öffentliche Infrastruktur investiert, und wir haben einen langfristigen Abwärtstrend beim Anteil der Investitionen an der Wirtschaft erlebt. Die Regierungen wissen, dass sie nach der globalen Finanzkrise Fehler gemacht haben, als sie die Finanzpolitik zu schnell gestrafft haben, und ich denke, sie werden sich bemühen, diese Fehler nicht zu wiederholen.“

6. Zentralbanken wollen die Zinsen nicht zum falschen Zeitpunkt anheben

„Die Reaktion der Zentralbanken auf die Corona-Krise bestand darin, das Gaspedal durchzudrücken und Geld in einem noch nie dagewesenen Tempo zu drucken. Jetzt müssen die Zentralbanken bestimmen, inwieweit höhere Preise die Nachfrage und das Wachstum abwürgen werden. Hier suchen die meisten Zentralbanker verzweifelt nach einer Antwort. Die Herausforderung besteht darin, dass die traditionellen Modelle der Beziehungen zwischen Arbeit, Inflation und Preisen zusammengebrochen sind. Die EZB scheint besonders darauf bedacht zu sein, die Fehler von 2011 nicht zu wiederholen, als sie das Wachstum durch Zinserhöhungen zum falschen Zeitpunkt abwürgte“, analysiert Busch.

„Das größere Risiko besteht meiner Meinung nach darin, dass die Zentralbank genau den gegenteiligen Fehler machen könnte. Wenn die EZB ihre Politik zu lange zu locker lässt, besteht die Gefahr, dass wir irgendwann ein Inflationsproblem bekommen, das viel größer ist als das, was wir heute haben.“

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