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Analyse

Expertenanalyse: „Schlechte Nachrichten sind nur noch schlechte Nachrichten“

Jede Woche veröffentlichen führende Vermögensverwalter und Fondsgesellschaften weltweit zahlreiche fundierte Einschätzungen zu den Finanz- und Kapitalmarktmärkten. Um einen Überblick zu erhalten, stellt TiAM FundResearch regelmäßig die wichtigsten Aussagen für Sie kompakt zusammen.

16.09.2022 | 12:15 Uhr

Diese Woche standen die aktuellen Inflationsdaten und die Folgen für die Finanzmärkte im Fokus der Analysen.

So kommentieren die PIMCO-Ökonominnen Tiffany Wilding und Allison Boxer die Trends bei den US-Inflationsdaten und der US-Konjunktur:
Der Bericht zum US-Verbraucherpreisindex (VPI) für August deutet darauf hin, dass sich der Rückgang der Inflation in den USA über einen längeren Zeitraum erstrecken wird. Wir (und die Märkte) halten eine Anhebung der Leitzinsen seitens der Federal Reserve (Fed) um 75 Basispunkte (BP) weiterhin für wahrscheinlich. Wir sind der Ansicht, dass die jüngsten VPI-Daten nicht zu einem drastischen Schritt auf der nächsten Sitzung führen (beispielsweise zu einer stärkeren Anhebung). Sie sprechen vielmehr dafür, dass die Punkteplot der Fed - d. h. die kurz- und längerfristigen Prognosen der Fed-Beamten für den Leitzins - nach oben verschoben werden.
Auf der September-Sitzung werden neue Prognosen veröffentlicht, und wir rechnen mit einem höheren prognostizierten Medianwert von 4,5 Prozent. Das deutet darauf hin, dass die Fed noch weitere Zinserhöhungen vornehmen muss, bevor sie den Leitzins beibehält, da das allmählichere Tempo der Disinflation eine restriktivere Politik erfordert, um einen weiteren Anstieg der Inflationserwartungen zu verhindern.
Die verschärften finanziellen Bedingungen in den USA und ein höherer Leitzins deuten auch darauf hin, dass der Weg zu einer sanften Landung immer schmaler wird und eine Rezession in den USA in den nächsten zwölf Monaten wahrscheinlicher ist, als das keine Rezession eintritt.
Nachdem der VPI-Bericht für Juli eine gewisse Hoffnung auf eine Abschwächung sowohl der Gesamt- als auch der Kerninflation aufkommen ließ, übertraf der VPI-Bericht für August die Konsenserwartungen deutlich. Noch besorgniserregender war, dass die Preise in den meisten Waren- und Dienstleistungskategorien auf breiter Basis wieder anzogen. In Anbetracht der nachlassenden Preisentwicklung bei mehreren Hochfrequenzindikatoren in den letzten Monaten (Einkaufsmanagerindizes (EMI), Schifffahrt, Lagerbestände im Einzelhandel, Manheim-Gebrauchtwagenindex usw.) scheint sich die Entspannung bei den Inputpreisen selbst nach Bereinigung um die üblichen Verzögerungen noch nicht auf die Verbraucherpreise auszuwirken. Dies deutet darauf hin, dass viele Unternehmen ihre Preisaufschläge beibehalten, indem sie die sinkenden Inputkosten langsamer weitergeben. Das entspricht der Auffassung, dass es länger dauern wird, bis die Inflation nachlässt.“


Thomas Costerg, Senior US Economist und Frederik Ducrozet, Head of Macroeconomic Research bei Pictet Wealth Management, erklärt:
- „Wir passen unsere Prognosen für die Leitzinsen unter Berücksichtigung eines widerstandsfähigeren Arbeitsmarktes in den USA und der hawkishen Reaktionsfunktion der Zentralbanken an.
- Die Verbraucherinflation in den USA ging im August angesichts des anhaltenden Kernpreisdrucks nur leicht auf 8,3 Prozent zurück, so dass die Fed vorerst in höchster Alarmbereitschaft bleibt. Eine dritte „Jumbo“-Zinserhöhung um 75 Basispunkte ist für den 21. September 2022 wahrscheinlich, gefolgt von 50 Basispunkten im November und 25 Basispunkten im Dezember, womit der Leitzins der Fed auf 4,0Prozent steigen würde (gegenüber unserer bisherigen Erwartung von 3,25 Prozent). Da sich das Wachstum und die Beschäftigung zum Jahreswechsel zu verschlechtern beginnen, wird die Fed unserer Meinung nach im Jahr 2023 keine weiteren Zinserhöhungen mehr vornehmen, aber auch nicht mehr die Zinsen senken.
- Ein verzögerter Schwenk der Fed könnte anderen Zentralbanken Spielraum für eine längere Straffung ihrer Politik verschaffen - insbesondere in Europa, wo die Inflation ihren Höhepunkt noch nicht erreicht hat.
- Wir gehen davon aus, dass die EZB weitere Zinserhöhungen vorziehen und den Einlagensatz bis zum Jahresende auf 2,0 Prozent (bisher: 1,50 Prozent) anheben wird, und dass die Schweizerische Nationalbank (SNB) schneller auf 1,25 Prozent (bisher: 0,75 Prozent) aufholen wird.“


Dr. Marco Willner, Head of Investment Strategy, und Patrick Moonen, Principal Strategist bei NN Investment Partners, stellen fest, dass schlechte Nachrichten plötzlich nur noch schlechte Nachrichten sind:
„Leider gibt es derzeit viele schlechte Nachrichten zu verdauen, insbesondere in Europa. Die jüngsten Inflationszahlen für die Eurozone überstiegen die Erwartungen und deuteten sogar auf eine zunehmende Inflation jenseits von Lebensmitteln und Energie hin. Die Energiekrise erstickt die europäische Wirtschaft. Die Verbraucher verzeichnen erhebliche Einbußen bei Realeinkommen und Kaufkraft. Die Unternehmen sehen sich mit steigenden Kosten konfrontiert. Einige denken sogar darüber nach, energieintensive Produktionsanlagen vorübergehend stillzulegen, weil ihr Betrieb nicht mehr rentabel ist. Eine Rezession scheint in Europa unvermeidlich. Erschwerend kommt hinzu, dass die politische Landschaft mit den bevorstehenden Wahlen in Italien zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt undurchsichtig ist.
In China stottert weiterhin der Wachstumsmotor aufgrund der Immobilienkrise und der anhaltenden wirtschaftlichen Probleme, die durch die Null-Covid-Politik verursacht werden. Die chinesischen Behörden bieten Konjunkturhilfen an, doch dürften entschiedenere Maßnahmen erst nach dem Parteikongress im Oktober zu erwarten sein.
Zudem sind Unternehmensgewinne rückläufig, und die Prognosen für 2023 scheinen immer noch viel zu hoch. Die Zukunftsindikatoren sind negativ, und die Gewinnprognosen für die nächsten 12 Monate werden häufiger gesenkt als angehoben. Wir gehen davon aus, dass sich dieser Trend fortsetzen wird.
Die fehlende geldpolitische Wende, zumindest in den nächsten Monaten, könnte auch bedeuten, dass die Erhöhung der Bewertungsmultiplikatoren nicht zum Tragen kommt und dass sich die Märkte an den makroökonomischen und unternehmerischen Fundamentaldaten orientieren werden. In der Vergangenheit bedurfte es einer Senkung der Leitzinsen, bevor sich die Märkte nachhaltig erholten. Wir werden auch in Zukunft das Spannungsfeld zwischen Wachstum, Inflation und Geldpolitik im Auge behalten, das sich, wie bereits erwähnt, in den letzten Monaten nicht verbessert hat.
Darüber hinaus deuten unsere quantitativen Top-Down-Signale auf eine moderate bis starke Untergewichtung risikoreicher Anlagen hin. Sowohl die fundamentalen als auch die verhaltensbasierten Indikatoren sind negativ. In diesem Umfeld ziehen wir es vor, bei unserer taktischen Vermögensallokation zurückhaltend zu sein. Wir haben Investment-Grade-Credit, Hochzinsanleihen und Zinsen stark untergewichtet. Wir behalten auch unsere moderate Untergewichtung in Aktien und Immobilien bei. Rohstoffe sind neutral.“


Vincent Mortier, Group CIO Amundi und Matteo Germano, Deputy Group CIO Amundi, nehmen ebenfalls eine vorsichtigere Haltung ein:
Im Juni waren wir der Meinung, dass eine Erholung in Sicht sei, da der Markt angesichts einer immer noch robusten US-Wirtschaft überverkauft war, was unsere Präferenz für den US-Aktienmarkt im Rahmen einer insgesamt vorsichtigen bis neutralen Aktienallokation untermauerte. Die wichtigste Story, die den Markt im Sommer stützte, war die Erwartung eines möglichen Kurswechsels der US-Notenbank, nachdem ihre bisherigen Maßnahmen restriktiver als erwartet ausgefallen waren. In einem Szenario, in dem „schlechte Nachrichten gute Nachrichten“ sind, unterstützte die negative vierteljährliche US-BIP-Zahl dieses Szenario. 
Da die Unternehmensgewinne in der Berichtssaison des zweiten Quartals immer noch positive Trends aufwiesen, hat das lebhafte Marktumfeld zu einer Lockerung der finanziellen Bedingungen geführt, was die Aufgabe der Zentralbanken weiter erschwert. Jetzt, da die Fed ihre restriktive Haltung bekräftigt hat, sind weitere Abwärtsbewegungen zu beobachten, die sich unseres Erachtens fortsetzen könnten, da die Märkte die höheren Realzinsen noch nicht eingepreist haben. 
Zum jetzigen Zeitpunkt sehen wir keine positiven Auslöser für eine Fortsetzung der Rallye, während die Risiken bis zum Herbst vor dem Hintergrund einer sich eintrübenden Konjunkturlage zunehmen. Um in diesem Umfeld zurechtzukommen, halten wir es für notwendig, dass Investoren ihre Vermögensaufteilung anpassen. Und weiter: „Mit Blick auf die nahe Zukunft bleibt die Wahrscheinlichkeit von Abwärtsrisiken im inflationären Umfeld hoch. Eine weitere fundamentale Verschlechterung könnte eine weitere Korrektur auslösen, wobei die Zweitrundeneffekte der Geldpolitik auf die Wirtschaft der potenzielle Katalysator für eine Verringerung der Risikobereitschaft sein können. Daher ist es an der Zeit, eine vorsichtige Haltung einzunehmen und die Entwicklung des wirtschaftlichen Umfelds wachsam zu verfolgen.


Dr. Martin Lück, Von Dr. Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Osteuropa bei BlackRock, vertritt folgende Ansichten:
- „
In der Pressekonferenz am vergangenen Donnerstag sprach Christine Lagarde erstmals explizit davon, die Nachfrage dämpfen zu wollen, um die Inflation zurück Richtung Zielwert zu bringen. Wir können davon ausgehen, dass am 27. Oktober und 15. Dezember weitere, möglicherweise substanzielle Zinsschritte folgen werden. Der Repo-Satz könnte zum Jahresende bei 2,5 Prozent stehen.
-
Selbst für den Fall, dass der militärische Konflikt in der Ukraine beendet wird, dürften bis auf weiteres die wirtschaftlichen Aussichten für Europa und damit die Perspektive für europäische Aktien eher trüb sein. Die sich abzeichnende Rezession droht, sich in eine Reihe der eher schweren ökonomischen Rückschläge der letzten 20 Jahre einzuordnen.
-
Sollten Strom- und Gaspreise vorerst weiter steigen, drohen erhebliche Produktionsausfälle, Unternehmensschließungen und eventuell ein schmerzhafter Anstieg der Arbeitslosigkeit. Gerade weil die Schwere der Abschwächung noch nicht voll absehbar und auch in offiziellen Prognosen kaum ernsthaft abgebildet ist, könnte sich der Ausblick für Aktienanleger in Europa zunächst noch weiter eintrüben.“


Dr. Jörg Zeuner, Chefvolkswirt Union Investment Comittee, erwartet ebenfalls, dass der Druck auf die Aktienmärkte anhalten wird:
„Die führenden Notenbanken haben klar gemacht, dass sie die Inflation nicht außer Kontrolle geraten lassen wollen, auch um den Preis einer Rezession. Die EZB wird an dieser Stelle der US-amerikanischen Federal Reserve folgen. Sie hat aufgrund der anhaltend hohen Inflation kaum die Chance, von ihrem Zinserhöhungspfad abzuweichen, selbst wenn die Konjunktur im Euroraum bereits angeschlagen ist. Die EZB wird ihr Mandat der Preisstabilität erfüllen. Zwar ist die Inflation in Europa vor allem von einer Angebotsverknappung getrieben und dagegen kann eine Notenbank nicht direkt vorgehen. Aber sie kann über steigende Zinsen dazu beitragen, die Nachfrage weiter zu drücken – bis unter das Niveau des gesunkenen gesamtwirtschaftlichen Angebots.
Vor diesem Hintergrund gehen wir davon aus, dass die EZB die Zinsen nach dem historisch großen Schritt um 75 Basispunkte im September in diesem Jahr um weitere 125 Basispunkte anheben wird. 2023 sollten dann keine zusätzlichen Schritte mehr folgen.
Der Druck auf den europäischen Aktienmärkten dürfte anhalten. Denn sobald die Inflation unter Kontrolle ist, eröffnen sich durch gestiegene Zinsen und Anleiherenditen wieder mehr Alternativen zu risikoreicheren Anlagen wie Aktien. Gleichzeitig verschlechtern die höheren Zinsen die Finanzierungsbedingungen der Unternehmen. Das belastet die Gewinne. Dazu kommen mögliche weitere Produktionseinbußen. Die Risikoaversion der Anleger vor dem Hintergrund der Unsicherheit bei den Schlüsselfaktoren Inflation und Konjunktur tut ein Übriges. Rückenwind kommt nur durch den schwachen Euro. Er hilft insbesondere exportorientierten Unternehmen mit einem hohen Umsatzanteil in US-Dollar.“


Bernhard Grünäugl, Leiter Investment Strategy & ESG Research bei der BayernInvest, sieht dagegen Chancen für Anleger in 2023:
„Die Fed dürfte daher zur Zinssitzung im November wohl das Tempo der Leitzinsanhebungen drosseln und das Gesamtvolumen der benötigten Zinsschritte nicht mehr weiter anheben, was ein Ende der Leitzinsanhebungen zum Jahresende erwarten lässt. Dies dürfte der Moment sein, ab dem die Kapitalmärkte zuversichtlicher nach vorne blicken. Und auch aus europäischer Sicht dürfte dies für Entspannung sorgen, denn die in den USA im Vergleich zur Eurozone schneller fallenden Inflationsraten und der daraus resultierende Spielraum für die Fed dürften den Euro gegenüber dem Greenback aufwerten lassen, was in 2023 und 2024 zu verringertem importierten Inflationsdruck auch in der Eurozone führen sollte.
Eine Aufwertung von zehn bis 20 Prozent in Vergleich zu den aktuellen Niveaus scheint realistisch. Während die EZB in der Regel von unveränderten Wechselkursen in ihren Inflationsprognosen ausgeht, sollte eine zehnprozentige Aufwertung des Euros die Inflation im Euroraum spürbar um gut 0,5 Prozentpunkte in 2023 drücken. Insbesondere in 2024 dürfte die Inflation dann wieder unterhalb des EZB-Ziels liegen.
Per Saldo spricht dies dafür, dass Aktien-, Credit- und Durationsrisiken mittelfristig wieder attraktiv werden. An unserer Erwartung fallender Renditen für Bunds und Treasuries inn 2023 halten wir entsprechend grundsätzlich ebenso fest, wie an der Einschätzung, dass Aktien im kommenden Jahr wieder deutlich werden zulegen können. Die bereits seit einigen Monaten fallenden Notierungen der Industriemetalle sind nicht nur als konjunktureller Frühindikator, sondern auch in dieser Hinsicht relevant, da der langjährige enge Gleichlauf zwischen diesen und US-Treasuries darauf hindeutet, dass die US-Renditen aktuell zu hochgestiegen sind. Auf dieser Basis sollten die 10-jährigen US -Treasuries eher im Bereich 2 –2,5 Prozent rentieren.

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