Janus Henderson Investors: Missverstandene Kraftzentren der Innovation

Janus Henderson Investors: Missverstandene Kraftzentren der Innovation
Unternehmen

Redinel Korfuzi, Analyst der von Jamie Ross verwalteten Pan European Equity Strategie, untersucht die Macht von Plattform-Unternehmen und wie die Entwicklung ihrer Geschäftsmodelle häufig missverstanden werden kann.

10.06.2020 | 09:00 Uhr

Zentrale Erkenntnisse:

  • Plattform-Unternehmen ermöglichen den Austausch von Werten zwischen Herstellern und Kunden, wobei die Produkte nicht von der Plattform selbst hergestellt werden. Wertschöpfung wird dabei nicht durch die Herstellung und den Verkauf von Erzeugnissen, sondern durch einen Handelsmechanismus erzielt, der wesentlich weniger kapital- und arbeitsintensiv ist.
  • Diese Art von Unternehmen unterliegt häufig Netzwerkeffekten, d.h. sie sind umso wertvoller, je mehr Menschen das Produkt nutzen.
  • Die meisten Anleger wenden bei Plattform-Unternehmen nach wie vor Prognosen für lineare Unternehmen an, wobei der häufig vorhandene „Flywheel-Effekt“ außer Acht bleibt. Für den Markt ist dieses Konzept häufig nur schwer zu verdauen, was zu Preisineffizienzen führen kann.


In unserem letzten Artikel „Knowing where to fish“ haben wir dargelegt, inwiefern internetbasierte Geschäftsmodelle immense Chancen für geduldige Anleger bieten, sofern sie die richtigen Titel auswählen. Bei Internet-Unternehmen konzentrieren wir uns besonders auf Plattform-Geschäftsmodelle.

Seit der industriellen Revolution, als die Erfindung von Maschinen und die Entwicklung der Dampfkraft den Übergang von der manuellen Produktion zu mechanisierten Fertigungsprozessen ebneten, ist die Industrielandschaft von „linearen“ Geschäftsmodellen geprägt. Lineare Unternehmen stellen anhand von Inputs wie physische Produktionsanlagen und Arbeitskraft Waren und Dienstleistungen her, die entlang einer linearen, einspurigen Wertschöpfungskette an Kunden verkauft werden. Nehmen wir zum Beispiel Automobilhersteller, Stahlerzeuger und Konsumgüterunternehmen. Bei vielen von ihnen hat der technologische Fortschritt den linearen Charakter ihrer Wertschöpfungsketten nicht verändert.

In mehreren Branchen hat das Internet die Vertriebskosten dramatisch gesenkt, wodurch das Kapital in Branchen, die zuvor von Skaleneffekten beim physischen Vertrieb profitierten, nachhaltig geschrumpft ist. Hierzu zählen unter anderem Reisebüros, Zeitungen, Buchläden, Videoverleihs und Einkaufszentren. Unternehmen mit hohen Fixkosten bei Produktionanstieg mussten sich mit Rivalen messen, die von sehr geringen Grenzkosten des Internetvertriebs profitierten. Der Übergang vieler Softwareunternehmen zu wiederkehrenden Umsatzmodellen basierte auf dem Wunsch, die Grenzkosten des Vertriebs zu senken und die inkrementelle Kapitalrendite zu erhöhen. Diese Softwarefirmen haben aber nach wie vor lineare Lieferketten. Lineare Unternehmen stellen mit Hilfe ihrer internen Ressourcen und Produktionsmittel Produkte und Dienstleistungen her.

Wir finden Plattform-Unternehmen aus Anlegersicht meist erheblich attraktiver. Sie ermöglichen Interaktionen und den Austausch von Werten zwischen Herstellern und Kunden, wobei die Plattformen aber selbst nicht produzieren. Statt Wertschöpfung durch Fertigung und Verkauf von Erzeugnissen zu erzielen, bieten Plattformen einen Handelsmechanismus. Als solche sind Plattformen viel weniger kapital- und arbeitsintensiv als lineare Geschäftsmodelle. Plattformen generieren Umsatz, indem sie einen Teil des Transaktionswerts kassieren, den ihr Netzwerk ermöglicht. Hersteller, die eine Plattform nutzen, nehmen zusätzliche Kosten für die Stückproduktion als Gegenleistung für die Aussicht auf Volumensteigerungen über die Plattform in Kauf.

Durch das Internet sind die Vertriebskosten vieler Unternehmen zwar gesunken, aber Plattformen ermöglichen häufig noch niedrigere Grenzkosten des Vertriebs und fördern eine wirtschaftlichere Produktion als bei linearen Unternehmen. Der Aufbau einer erfolgreichen Plattform ist nicht einfach und erfordert die Lösung des Henne-Ei-Problems: einerseits muss eine Plattform genügend Hersteller haben, um Kunden anzulocken, andererseits braucht sie genügend Kunden, um für Hersteller attraktiv zu sein. Ohne eine gewisse Größe und Liquidität ist der Wert für die Nutzer geringer als die Teilnahmegebühren. Aufgrund dieser Dynamik ist der Aufbau von Plattform-Unternehmen aus dem Stand schwieriger als der linearer Unternehmen. Sobald jedoch der Kipppunkt überschritten wird, an dem der Wert für den Nutzer die Teilnahmegebühr übersteigt, treten starke Netzwerkeffekte ein, die den Wert je Nutzer für das Netzwerk rasch in die Höhe treiben können. Darin liegt der eigentliche Reiz dieses Geschäftsmodells.

Netzwerkeffekte: Wert wächst im Quadrat zur Kundenzahl

Dieses Netzwerkeffekt-Konzept stammt aus der Computervernetzung. Bob Metcalfe, der Erfinder des Ethernet, prägte das berühmte Metcalfesche Gesetz wonach der Wert eines Netzwerks sich proportional zum Quadrat der Zahl der Verbindungspunkte verhält. Wenn ein Netzwerk mit 10 Verbindungspunkten einen Wert von 100 hat, würde ein Netzwerk mit 100 Verbindungspunkten einen Wert von 10.000 haben. Das größere Netzwerk ist nicht nur 10-mal sondern 100 mal wertvoller als das kleinere Netzwerk. Anders gesagt geht es um das Grundprinzip der Verstärkung.

Ein Netzwerkeffekt liegt vor, wenn jeder zusätzliche Nutzer einen Mehrwert für die bestehende Nutzerbasis beschert. Dabei schaffen die neuen Nutzer selbst Mehrwert für die vorhandenen Nutzer. Das lässt sich am klassischen Beispiel der Sprache veranschaulichen. Stellen Sie sich 100 Menschen vor, die in einer Gemeinschaft leben und 10 verschiedene Sprachen sprechen, wobei jeder nur eine dieser 10 Sprachen spricht. Man müsste dann ständig übersetzen, was aufwändig und zeitraubend ist. Wenn eine zusätzliche Person Englisch lernt und sich die Gesamtzahl der Englisch sprechenden Personen dadurch auf 11 erhöht, wird sich die nächste Person, die eine neue Sprache lernen will, wahrscheinlich für Englisch entscheiden. Irgendwann, wenn 20 oder 30 Personen Englisch sprechen, hat Englisch gesiegt. Dann wird Englisch den gesamten Sprachmarkt dominieren und andere Sprachen haben einen Wettbewerbsnachteil.

Wir können uns an diesem Beispiel orientieren. Englisch ist inzwischen die Muttersprache aller technischen Ausbildungen. Wenn ein Wissenschaftler zum Beispiel Englisch nicht in Wort und Schrift beherrscht, hat er gegenüber seinen Kollegen wahrscheinlich einen erheblichen Nachteil.

Sprachen sind wahrscheinlich das älteste Beispiel für den Netzwerkeffekt.

Neben Netzwerkeffekten profitieren erfolgreiche Plattformen auch von den Auswirkungen der Hersteller-Wechselkosten. Auf einer Plattform bieten Kunden Herstellern oft nicht-finanzielle Vorteile in Form von Rezensionen, Bewertungen und sonstigem Feedback wie „Gefällt mir“ und „Teilen“. Das ist ein wichtiger Mechanismus, der korrektes Verhalten fördert und ein erforderliches Maß an Kundenservice sicherstellt. Wenn Hersteller sich so Goodwill aufbauen, steigen die Kosten, um dieses Netzwerk zu verlassen und einen Ruf von null an aufzubauen.

Das Plattform-Geschäftsmodell ist zudem kartellrechtlich weniger bedenklich als das lineare Geschäftsmodell. Das Kartellrecht soll einen fairen Wettbewerb zum Wohl der Verbraucher fördern. Traditionelle Monopolisten kontrollieren die Produktionsmittel. Sie erzielen überdurchschnittliche Gewinne, indem sie die Produktion drosseln, wettbewerbswidrige Preise verlangen und den Mehrwert für Verbraucher minimieren. Plattform-Unternehmen besitzen nicht die Produktionsmittel, sondern bieten lediglich Möglichkeiten der Vernetzung. Plattformen kontrollieren nicht die Preise und den Output der Hersteller. Aber indem sie mehr Verbindungspunkte zwischen Verbrauchern und Herstellern ermöglichen, können sie den Wettbewerb letztendlich zum Vorteil des Verbrauchers ankurbeln. Das Ziel, die Plattformgröße zu erhöhen, kommt sowohl Eigentümern als auch Nutzern zugute. Plattformen zeichnen sich daher durch einen Abgleich der Interessen von Aktionären und Kunden aus, was bei traditionellen linearen Monopolisten nicht der Fall ist. Eine Regulierung mit der Absicht, die Dominanz einer Plattform einzudämmen, könnte die Interessen der Verbraucher unerwünscht schädigen.

Plattformen stellen Verbrauchern an einem Ort ein fragmentiertes Angebot bereit. Nehmen wir zum Beispiel Verbraucher, die nach dem besten Preis für ein Haus oder ein Auto suchen. Es entstehen Opportunitätskosten im Zusammenhang mit dem Zeitaufwand für die manuelle Suche nach den Eigentümern dieses Bestands und dem Vergleich von Verfügbarkeit und Preisen. Die Durchführung dieses Preisvergleichs für Ihre Immobilie auf einer Website wie Immoscout (im Besitz des deutschen Börsenunternehmens Scout 24, an dem wir beteiligt sind) ist wesentlich effizienter.

Darüber hinaus erhält der Verbraucher dank der Preistransparenz ein attraktiveres Ergebnis. Die Plattform sorgt für eine größere Auswahl und spart dem Verbraucher Zeit und Geld. Und je größer die Plattform, desto größer die Auswahl und desto attraktiver der Preis. Plattformen wachsen somit durch den Mehrwert für ihre Nutzer und weniger durch die Kontrolle der Lieferkette. Diese Überlegungen sind zwar vielleicht logisch, doch bis sich das Regelwerk zu einem geeigneten Rahmen für die Geschäftsmodelle des 21. Jahrhunderts entwickelt hat, werden die Regulierungsbehörden wahrscheinlich unzweckmäßige Kartellvorschriften anwenden, um einigen marktbeherrschenden Plattformen (wie Airbnb und Uber) das Leben schwer zu machen.

Eine der größten Herausforderungen für Regulierungsbehörden und Anleger bei der Analyse solcher Unternehmen ist die Ermittlung des gesamten adressierbaren Marktes, insbesondere beim Start einer Plattform. Bei den Bewertungen des Aktienwerts von Uber wurde beispielsweise ursprünglich die weltweite Taxibranche als adressierbarer Markt zugrundegelegt. Rückblickend hat sich herausgestellt, dass dies schlichtweg falsch war, denn der potenzielle Markt war aufgrund des überragenden Kundenerlebnisses im Vergleich zu herkömmlichen Taxis (billiger, kürzere Abholzeiten, bequemere Zahlungsmethoden, Tracking-Technologie, größere Sicherheit und Vertrauen) wesentlich größer als der Taximarkt. Somit erstreckte sich der relevante adressierbare Markt neben der Taxibranche auch auf den öffentlichen Transport, Fußgänger, Mietwagen und die Nutzer von Privat-Pkw.

Die überdimensionale Kapitalrendite für die ersten Uber-Anleger kam zum Teil zustande, weil der Aktienmarkt bei seinem Ausblick für das disruptive Unternehmen nicht über die traditionelle Branche hinausblickte. Plattform-Unternehmen werden daher leicht unterschätzt, wenn die Möglichkeit besteht, das starke Netzwerk zu nutzen, um in angrenzende Bereiche zu investieren.

In seinem Jahresbrief 2011 erläuterte Amazon-Chef Jeff Bezos ausführlich, wie eine Plattform Kreativität fördert, Innovationen vorantreibt und dementsprechend neue adressierbare Märkte schafft.

Es gibt unterschiedlichste Arten von Erfindungen auf vielen Ebenen. Die radikalsten und transformativsten Erfindungen sind oft jene, die anderen helfen, ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen und ihre Träume zu verwirklichen. Das beschreibt im Wesentlichen wie Amazon funktioniert. Wir schaffen starke Self-Service-Plattformen, die es Tausenden von Menschen ermöglichen, mutig zu experimentieren und Dinge zu erreichen, die sonst praktisch unmöglich wären. Diese innovativen, großen Plattformen sind keine Nullsumme, sondern bescheren Win-Win-Situationen und schaffen erheblichen Mehrwert für Entwickler, Unternehmer, Kunden, Autoren und Leser."

Jeff Bezos, Jahresbrief 2011 an die Amazon-Aktionäre

Bis heute hat der Markt dieses Konzept kaum verinnerlicht und preist diesen Flywheel-Effekt nach wie vor nur ineffizient ein. Die meisten Anleger wenden weiterhin lineare Geschäftsprognosen auf eine Reihe von Ergebnissen an, die exponentielles Wertwachstum beinhalten könnten.

Die Kundenakquise linearer Unternehmen führt zu Einzelbeziehungen je Neukunde. Geschäftsmodelle mit wiederkehrenden Umsätzen können zwar die Kosten für Kundenakquise und -bindung senken, bescheren aber dennoch bei jedem Kunden einen singulären Gewinn. Wenn Plattformen Kunden oder Hersteller als Nutzer gewinnen, nehmen diese Kontakt zueinander auf und schließen Geschäfte mit vorhandenen Plattformnutzern ab. Wenn die Zahl der Nutzer rechnerisch wächst, steigt die Zahl potenzieller Kontakte und Geschäfte exponentiell. Aufgrund der sehr niedrigen Grenzkosten für Vertrieb und Produktion können die Gewinnspannen rasant steigen. Die Anwendung linearer Wachstumserwartungen auf Plattform-Unternehmen impliziert daher, dass es der Plattform nicht gelingt, diese potenziellen Interaktionen zu ermöglichen, zu pflegen und zu monetarisieren.  Wenn wir die sehr viel niedrigeren Wachstumskosten für diese Unternehmen verstanden haben, sollten wir die Relevanz bisher anerkannter Bewertungsmethoden, die auf veralteten Bilanzkennzahlen basieren, hinterfragen.

Ein Pardebeispiel ist in diesem Zusammenhang Mastercard. In den letzten zehn Jahren hat Mastercard seinen Gewinn je Aktie um jährlich 20% gesteigert, und der Aktienkurs ist um 30% p.a. gestiegen. Vor zehn Jahren wurde Mastercard ca. mit dem 15-fachen seines GAAP*-Gewinns je Aktie bewertet. Ein Anleger hätte das 80-fache des Bilanzgewinns nach Steuern des Unternehmens zahlen und gleichzeitig noch Opportunitätskosten für die Anlage von 10% pro Jahr für die nächsten zehn Jahre erzielen können. Diese Kennzahlen halfen den damaligen Anlegern selbstverständlich nicht, vom vollen Wertschöpfungspotenzial von Mastercard zu profitieren.

Das Vorhandensein dieser Möglichkeit für Anleger an den Aktienmärkten impliziert, dass die exponentiellen Wachstumsmerkmale erfolgreicher Plattform-Unternehmen dramatisch unterschätzt wurden. Wir werden weiterhin aufmerksam Ausschau nach diesen fehlbewerteten Chancen halten.

* GAAP - Allgemein anerkannte Rechnungslegungsgrundsätze

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