Volle Gasspeicher, ein deutlich vom jüngsten Hoch gesunkener Gaspreis und milde Herbsttemperaturen ließen zuletzt hoffen, dass die Gaskrise schneller als erwartet überwunden werden könnte. Doch so einfach ist es nicht:
05.12.2022 | 11:01 Uhr
Mittelfristige Schätzungen beim Gaspreis lassen wenig Zuversicht mit Blick auf energieintensive Unternehmen in Europa und ganz besonders in Deutschland aufkommen. Und auch beim Ausbau der erneuerbaren Energien gibt es weiterhin verschiedene Hürden.
Aufgrund des zuletzt milden Wetters und einer jüngst
gesunkenen Nachfrage korrigierte der Preis für Erdgas am virtuellen
Handelspunkt TTF (Title Transfer Facility) in Rotterdam, der wegen seines hohen
Handelsvolumens der wichtigste Erdgas-Handelsplatz in Europa ist. Gas
verbilligte sich vom Ende August erreichten Jahreshoch in Höhe von 311 Euro pro
Megawattstunde auf zuletzt etwa 140 Euro pro Megawattstunde. Trotz dieses
deutlichen Rückgangs ist auch das aktuelle Niveau in einem längerfristigen
historischen Vergleich sehr hoch bzw. für energieintensive Industrien in
Deutschland zu hoch: 140 Euro pro Megawattstunde sind beispielsweise mehr als
zehn Mal so viel wie der entsprechende Preis Ende November 2020 (siehe hierzu
die Grafik am Ende des Textes). Energieintensive Unternehmen, die voll auf
Deutschland als Produktionsstandort angewiesen sind, sind damit perspektivisch
nicht wettbewerbsfähig.
Aus der Wirtschaft mangelt es entsprechend nicht an Warnungen in Richtung der
Politik. BASF als (noch) führendes Chemieunternehmen der Welt ist beispielsweise
der größte deutsche Gasverbraucher, wobei knapp vier Prozent des hierzulande
verbrauchten Gases auf das Unternehmen entfallen. Planungen von BASF scheinen
davon auszugehen, dass man mittelfristig beim Gaspreis mit dem dreifachen
Niveau in Europa im Vergleich zu den USA rechnen muss. In diesem Szenario wird
es zwangsläufig zu einer deutlichen Reduzierung der Kapazitäten in Deutschland
bzw. Europa kommen. Zwar gibt es noch bis 2025 eine Jobgarantie in
Ludwigshafen, aber eine deutliche Kapazitätsreduzierung am deutschen
Hauptstandort scheint unausweichlich. Die hieraus resultierenden negativen
Netzwerkeffekte auf Zulieferer, Anwohner (Fernwärme) und Stadt/Kommune
(Gewerbesteuer) dürften derzeit noch massiv unterschätzt werden.
Realistisch ist, dass der Preis für Erdgas perspektivisch hoch bleiben wird
bzw. wieder steigt. Problematisch könnte vor allem der Winter 2023/24 werden.
Blackouts oder ähnliche Horrorszenarien erscheinen im übernächsten Winter
realistischer als 2022/23. Hintergrund ist, dass es sehr schwierig sein wird,
ab März/April 2023 die Gasspeicher wieder aufzufüllen. Das aktuell dort
vorhandene Gas trägt zwar kein Herkunftsschild, aber klar ist, dass der
Großteil russischen Ursprungs ist. Vor dem Krieg in der Ukraine hat Russland an
die Europäische Union (EU) insgesamt 155 Mrd. m3 Gas geliefert. Die Lieferungen
erfolgten über die drei Pipelines Nordstream 1, Yamal (über Weißrussland/Polen)
und über eine Pipeline durch die Ukraine. Davon ist aktuell nur noch die
größte, diejenige durch die Ukraine, in Teilbetrieb. Realistisch ist, dass 2023
gar kein russisches Gas mehr kommt. Wie die EU ab 2023 bis zu 155 Mrd. m3 Gas
ersetzen will, ist mit der Analyse der vorliegenden Daten bzw. der weltweiten
LNG-Ströme nicht ersichtlich. Ohne extremes Sparen bzw. deutliche und
anhaltende Verbrauchsreduzierung wird es wohl nicht gehen.
Kritisch zu sehen ist der von der EU-Kommission diskutierte Vorschlag eines Preisdeckels
für Erdgas am Knotenpunkt TTF. Eine Preisgrenze im Großhandel für
Lieferverträge im kommenden Monat beschneidet die Fähigkeit der jeweiligen
Marktteilnehmer, Risiken abzusichern und könnte negative Auswirkungen auf die
Versorgungssicherheit haben. Bei einem zu tief gesetzten Preisdeckel im
Großhandel ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die EU letztendlich
unattraktiver für Energieimporteure wird und diese auf andere, weniger
regulierte Märkte ausweichen. Nach den jüngsten Vorschlägen der EU-Kommission
soll der Preisdeckel wohl aber bei 275 Euro pro Megawattstunde liegen. Dieses
Niveau wurde 2022 nur an sehr wenigen Tagen überschritten (siehe hierzu die
Grafik in der Pdf-Datei). Der Gaspreisdeckel würde demzufolge nur bei extremen
Preisspitzen greifen. Die großen europäischen Öl- und Gaskonzerne haben im
Hinblick auf die Gewinnentwicklung allesamt ein hohes Exposure zur
Preisentwicklung am Knotenpunkt TTF, das heißt deren realisierte Preise
basieren oft überwiegend auf dem TTF-Preis.
Obwohl das Angebot von Flüssiggas (LNG) geschätzt um mehr als 20 Prozent
(gegenüber dem Niveau aus 2020) auf ca. 450 Mio. Tonnen im Jahr 2025 wächst,
dürfte die weltweite Nachfrage nach Flüssiggas das Angebot auch in den
kommenden Jahren klar übersteigen. Nach aktuellen Prognosen zum Ausbau der
Kapazitäten werden Angebot und Nachfrage im weltweiten LNG-Markt frühestens
2026 wieder im Gleichgewicht sein. Defizitsituationen an Energiemärkten
bedeuten im Regelfall hohe Preise. Daher ist davon auszugehen, dass die Preise
für LNG strukturell über viele Jahre hinweg auf hohem Niveau bleiben werden.
Demzufolge bleiben auch die Gewinnaussichten für die führenden LNG-Produzenten
unverändert gut. Deutschland will bereits im kommenden Jahr mithilfe der bis zu
fünf schwimmenden LNG-Terminals insgesamt etwa 25 Mrd. m3 Flüssiggas
importieren. Gelänge dies, hätte Deutschland damit mehr als 50 Prozent der
russischen Gasimporte (Referenzjahre 2020/21) durch Flüssiggasimporte ersetzt -
allerdings zu massiv höheren Preisen. Die Schlüsselrolle beim Export bzw. der
LNG-Versorgung für Deutschland und Europa spielen dabei die USA bzw. die dort
ansässigen Produzenten. Generell haben die meisten Produzenten den
überwiegenden Anteil ihrer Kapazitäten über Langfristverträge (in der Regel 20
Jahre) verkauft. Bereits angestoßene Erweiterungsprojekte und
Effizienzsteigerungen schaffen aber über die nächsten Jahre zusätzliche
Kapazitäten, die dann zu voraussichtlich hohen Preisen verkauft werden können.
Klarer Treiber für das Geschäft der US-LNG-Produzenten ist der politische Druck
in Europa, sich dauerhaft unabhängig von russischem Gas zu machen.
Schwer nachzuvollziehen bleibt, warum Deutschland nicht in Betracht zieht, die
Gasvorkommen im eigenen Land zu erschließen. Die Bundesanstalt für
Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) beziffert beispielsweise das
Schiefergaspotenzial in Deutschland auf etwa 1.000 Mrd. m3: Diese Menge würde
den deutschen Gasbedarf für mehr als zehn Jahre vollständig decken, wobei die
Risiken für das Grundwasser ebenso wie Erdbeben mit modernen Fördertechnologien
minimal sind. Aus Umweltschutzgesichtspunkten dürfte „Fracking“ in Deutschland
sogar viel klimaschonender sein als der LNG- bzw. Pipeline-Import, da das Gas
nicht mit Hilfe von Schiffen um die halbe Welt transportiert werden muss, die
ihrerseits oftmals mit Schweröl angetrieben werden. Ferner würde dadurch das
Risiko von Methanlecks an Pipelines minimiert werden. Eine Perspektive
beziehungsweise ein Bekenntnis der deutschen Politik, die eigenen Ressourcen
schnell zu erschließen und zu nutzen, könnte sich für den Industriestandort
Deutschland als förderlich erweisen und für Unternehmen auch wieder eine
bessere Planungssicherheit bringen.
Um die deutsche und europäische Energiekrise dauerhaft zu lösen, muss aber
nicht nur eine neue Gas-Infrastruktur aus- und aufgebaut werden. Auch die
Erneuerbaren Energien müssen massiv ausgebaut werden. Ohne ein wirtschaftlich
gesundes Fundament wird der Ausbau der Erneuerbaren allerdings schwierig, und
für die Übergangszeit sind die fossilen Brennstoffe nicht zu ersetzen.
Zwar hat sich die deutsche Regierung zum Ziel gesetzt, den Ausbau der
Erneuerbaren zu beschleunigen, wobei bis 2030 der Stromverbrauch zu 80 Prozent
daraus gedeckt werden soll. Doch der Ausbau kommt nicht entscheidend voran –
Knackpunkt sind die langen Genehmigungsverfahren, die den Ausbau ausbremsen.
Angesichts dessen erwägt Bundeswirtschaftsminister Habeck Staatsgarantien für
die Wind- oder Solarbranche. Denkbar seien Produktions- oder Abnahmegarantien.
Aber auch eine Vereinfachung der Genehmigungsverfahren wäre ein erster
wichtiger Schritt und dürfte 2023 auch kommen.
Folgende Beispielrechnung schildert die Herausforderung bei den Ausbauzielen:
Will man die Gas-, Kohle- und Nuklearkapazitäten in Deutschland vollständig
ersetzen, muss man Erneuerbare Kapazitäten aufbauen, die einer Leistung von
rund 900 Gigawatt an Wind- und Solarenergie entsprechen, die direkt in die
Netze eingespeist werden, sowie nochmals 150 Gigawatt für die Bereitstellung
von grünem Wasserstoff. Alle Windkraftanlangen in Deutschland zusammen haben
derzeit eine Kapazität von rund 64 Gigawatt. Für einen Ausbau von mehr als
1.000 Gigawatt würde man damit nach Schätzungen von Norwegens Öl- und
Gaskonzern Equinor praktisch die gesamte existierende Wertschöpfungskette (alle
derzeitigen Produktionskapazitäten) für über 20 Jahre voll auslasten bei
geschätzten Kosten von mehr als 2.000 Mrd. Euro (Faktor 60 in Relation zu den
gesamten deutschen Ausgaben aus dem Jahr 2020).
Kritisch für die ambitionierten Zielsetzungen der Politik sind auch die
Kapazitäten bei den Unternehmen beispielsweise der Wind-, Solar- und
Wasserstoffbranche. Wesentliche Komponenten für Solar- und Windparks werden
aktuell überwiegend in China gefertigt. Bei einer Verschlechterung der
Handelsbeziehungen mit China würde das Ausbauziel bei den Erneuerbaren in weite
Ferne rücken.
Abschließend lässt sich festhalten: Firmen, die stark am Ausbau der Windkraft
in Deutschland hängen, könnten demzufolge in den nächsten Jahren auch aus
Deutschland einen Auftragsboom erleben. Dazu bedarf es jedoch noch einiger
Anstrengungen von Seiten der Politik.
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