ODDO BHF CIO View: Evergrande - stehen wir vor einem neuen "Lehman-Schock" in China?

ODDO BHF CIO View: Evergrande - stehen wir vor einem neuen "Lehman-Schock" in China?
Märkte

Misst man die Bedeutung von China nach Kaufkraft am realen Bruttoinlandsprodukt (BIP), dann hat China die USA bereits im Jahr 2017 überholt.

27.09.2021 | 09:14 Uhr

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Nimmt man das nominale BIP zu laufenden Währungskursen als Maßstab, dann wird China mit einem BIP von knapp 15 Billionen USD die USA mit einem BIP von ungefähr 21 Billionen USD – je nach Wachstumserwartung – irgendwann zwischen 2028 und 2033 an Bedeutung übertreffen. Da sich China insbesondere seit dem Beitritt zur Welthandelsorganisation im Jahr 2001 zu einem wichtigen Faktor für das globale Wachstum entwickelt hat, können Verwerfungen im Reich der Mitte zu Turbulenzen an den globalen Finanzmärkten führen. Am Montag dieser Woche ist der Hang Seng China Enterprise Index (HSCEI) um -3,4% eingebrochen und mit ihm der S&P 500 um -1,7% sowie der DAX um -2,3%, nachdem sich die Bilanz- und Liquiditätskrise um den chinesischen Immobilienentwickler Evergrande verschärft hat.

Bei Evergrande handelt es sich um das zweitgrößte Immobilienunternehmen in China. Das Unternehmen ist zudem in zahlreichen weiteren Geschäftsfeldern – von Elektroautos über Nahrungsmittel bis hin zu einem Fußballclub – aktiv. Das Problem: Das Unternehmen ist wie viele andere chinesische Unternehmen hoch verschuldet. Ein Blick in den Jahresabschluss 2020 zeigt, dass sich die Verbindlichkeiten von Evergrande auf 1,95 Billionen Renminbi oder zu laufenden Wechselkursen auf 304 Milliarden US-Dollar zum Jahresende beliefen. Die Verbindlichkeiten von Evergrande, eines einzigen Unternehmens, überstiegen damit die Staatsschulden von Südafrika, eines Staates mit knapp 60 Millionen Einwohnern.

Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) veröffentlicht regelmäßig Daten zur Staatsverschuldung einzelner Länder und zur Verschuldung des privaten inländischen Sektors außerhalb des Finanzsektors. Die Graphik zeigt, dass der private nicht-finanzielle Sektor in China eine Verschuldung von über 200 % des Bruttoinlandsproduktes aufweist. Xi Jinping, der wohl mächtigste Staatspräsident Chinas sei Mao, steht nun vor dem Problem, gleichzeitig die Schulden zurückführen zu müssen und andererseits Wachstum und Wohlstand sicherzustellen. Bereits im August 2020 wurden in China „drei roten Linien“ für den Immobiliensektor formuliert. Mit diesen Regeln wurden Grenzen für die Verbindlichkeiten relativ zum Anlagevermögen (max. 70 %), zur Nettoverschuldung relativ zum Eigenkapital (max. 100 %) und zum Verhältnis der Zahlungsmittel relativ zu den kurzfristigen Schulden (1x) definiert. Da zahlreiche Immobilienentwickler diese Grenzen überschreiten, müssen sie ihre Schulden zurückführen. Die restriktiven Maßnahmen führten zu Liquiditätsengpässen bei Immobilienunternehmen. Evergrande kündigte daraufhin an, Zinszahlungen nicht mehr bedienen zu können. Die Aktien von Evergrande sind dieses Jahr aufgrund der angespannten Schulden- und Liquiditätslage um rund 85 % eingebrochen.

Einige Marktbeobachter befürchten nun, dass sich die Krise zu einer Lehman-Krise ausweiten könnte. Lehman Brothers musste am 15. September 2008 infolge der Subprime-Krise Insolvenz anmelden. Die Subprime-Krise weitete sich zu einer globalen Finanzkrise aus, da die Finanzinstitute weltweit eng verflochten waren, die Banken sich misstrauten und sich gegenseitig keine Kredite mehr gewährten. Die internationale Vernetzung von Evergrande ist jedoch weitaus geringer als die von Lehman. Ein Blick in die Bilanz von Evergrande zeigt, dass zum 31.12.2020 Senior Notes in Höhe von 23,5 Mrd. USD ausstanden. Der Großteil der Schulden von Evergrande sind von chinesischen Banken gewährte Kredite und inländische Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen, etwa für Anzahlungen, Materialien und Landkäufe. Der Unterschied zur Lehman-Krise besteht darin, dass Evergrande international weniger verflochten ist und die chinesische Staatsführung zahlreiche Möglichkeiten hat, den Zusammenbruch von Unternehmen abzuwenden. Eine Restrukturierung der Schulden und eine Kapitalzuführung durch direkte staatliche Unterstützung oder indirekt über Anweisungen an den Bankensektor – wie zuletzt im Falle von Huarong Asset Management – ist zu erwarten. Bislang wartet die Regierung aber mit Hilfeleistungen. Die Behörden haben dem Finanzmarkt bislang nur rund 15 Milliarden an Liquidität zugeführt.

Die bisherigen Folgen der Immobilienkrise: Die Risikoprämien von Hochzinsanleihen von Immobilienunternehmen steigen. Der Aktienkurs von Banken mit hohem Evergrande-Exposure, wie der der Minsheng Bank, sind seit Jahresbeginn stark gefallen. Die Bautätigkeit geht zurück, was sich auf zahlreiche Rohstoffpreise wie den Eisenerzpreis auswirkt. In China ist ein hoher Anteil des Sparvolumens angesichts des seit vielen Jahren anhaltenden Immobilienbooms und eines Mangels an anderen attraktiven Anlagemöglichkeiten in Immobilien geflossen. Zulieferer und private Konsumenten, die Häuser vorfinanziert oder in Immobilien und Vermögensprodukte von Immobilienentwicklern investiert haben, stehen vor Verlusten, wenn die Regierung nicht eingreift. Der Grund für die starke Marktreaktion am Montag liegt nicht nur an der Höhe der Verschuldung des Unternehmens von rund 300 Mrd. USD, sondern vor allem an der hohen Bedeutung des Immobiliensektors für die chinesische Volkswirtschaft. Rogoff / Yang (2020, 2021) weisen darauf hin, dass der Immobiliensektor nach ihren Berechnungen 29 % der chinesischen Volkswirtschaft ausmacht. Mit einer deutlichen Abkühlung der chinesischen Wirtschaft, die bereits unter einer strikteren Regulierung insbesondere von Technologieunternehmen wie Alibaba, Tencent, Didi und Bildungsunternehmen wie New Oriental Education leidet, ist zu rechnen. China steht heute für rund 17 % des globalen Bruttoinlandsprodukts. Ein Rückgang des Wachstums in China wird auch die Weltwirtschaft nicht unberührt lassen.

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Grafik 1: Verschuldung und Verschuldungsquoten nach Ländern und im privaten nicht-finanziellen Sektor (Quelle: Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, Stand: 31.12.2020).

Den vollständigen "ODDO BHF CIO View: Evergrande - stehen wir vor einem neuen "Lehman-Schock" in China?finden Sie hier als PDF.

Vergangene Wertentwicklungen, Simulationen oder Prognosen sind kein zuverlässiger Indikator für die Zukunft. Die Rendite kann infolge von Währungsschwankungen steigen oder fallen. Etwaige Meinungsäußerungen geben die aktuelle Einschätzung des Investment Office der ODDO BHF AG wieder, die sich insbesondere von der Hausmeinung innerhalb der ODDO BHF Gruppe unterscheiden und ohne vorherige Ankündigung ändern kann.

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