Von Dr. Mirko Wormuth, Aktienanalyst im Bereich Research & Portfoliomanagement und Co-Fondsmanager des DJE – Asien
22.05.2024 | 10:56 Uhr
Chinas Aktienmarkt verzeichnete jüngst einen deutlichen Aufschwung. Was sind die Gründe dafür, wie greifen die ersten Maßnahmen am angeschlagenen Immobilienmarkt und welche Rolle spielt der Trend zu mehr Reisen, Sport und Outdoor?
Der chinesische Aktienmarkt konnte jüngst die stärkste monatliche Überperformance seit Ende 2022 verzeichnen, vor allem im Vergleich zu anderen Märkten in Asien und den Schwellenländern. So übertraf der MSCI China Index im April den MSCI Emerging Markets und den MSCI AC Asia ex-Japan um jeweils 6,2 Prozent und 5,3 Prozent. Auch der Shanghai Composite Index stieg und notiert jetzt fast 19 Prozent über seinem Tiefststand vom 5. Februar. Gleichzeitig setzte der Hongkonger Markt seine beeindruckende Serie fort mit einem Zuwachs von 16 Prozent.*
Was ist für den jüngsten Aufschwung verantwortlich? Die Gründe lassen sich einerseits in den niedrigen Bewertungen (nach langer Durststrecke) verorten, anderseits auch im Politischen. Fangen wir mit den politischen Entwicklungen an.
Das Politbüro hat getagt
Im April fand ein wichtiges Meeting des Politbüros statt, das neue Hoffnungen
auf ein Umschwenken weckte, vor allem bezogen auf den kritischen
Wohnimmobilienmarkt in China. Es wurde verkündet, dass es unabdingbar sei,
"mit Maßnahmen darauf abzuzielen, den Wohnungsbestand zu reduzieren und
die Qualität neuer Wohnungen koordiniert zu verbessern." Viel wichtiger
aber noch: Die Regierung gab bekannt, dass das lange aufgeschobene Dritte
Plenum des 20. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei (KP) nun endlich im
Juli stattfinden wird.
Was ist das "Dritte Plenum"?
Alle fünf Jahre hält die KP einen Nationalkongress ab, um unter anderem ein
neues Zentralkomitee zu bilden, das als höchste Autorität der Partei dient,
wenn der Kongress nicht tagt. Während seiner fünfjährigen Amtszeit trifft sich
das Zentralkomitee in sieben Plenen, von denen vor allem das Dritte Plenum
erhebliche Aufmerksamkeit auf sich zieht, da es oft entscheidende Änderungen
der Wirtschaftspolitik einführt. Eines der wichtigsten in Chinas jüngster
Geschichte war das Dritte Plenum im Dezember 1978, als unter Deng Xiaoping eine
entscheidende Ära der Reformen und wirtschaftlichen Transformation in China
eingeläutet wurde. Diese Sitzung markierte den Beginn einer neuen politischen
Richtung, die es ausländischen Unternehmen ermöglichte, überhaupt erst in China
zu investieren, und legte den Grundstein für Chinas Aufstieg zur zweitgrößten
Volkswirtschaft der Welt.
Nach dem Dritten Plenum im Jahr 2013 – dem ersten unter Xi Jinpings Führung – stieg der CSI 300 Index, der die Kursentwicklung an den beiden größten Börsen Festland-Chinas, Schanghai und Shenzhen, abbildet, innerhalb von 18 Monaten um mehr als 120 Prozent. Nach dem Dritten Plenum im Februar 2018 war die Wirkung nicht ganz so stark, aber der CSI 300 stieg dennoch um mehr als 50 Prozent in den darauffolgenden drei Jahren.
Bewegung auf dem Immobilienmarkt
Was tut sich am chinesischen Immobilienmarkt, der in den letzten Monaten stark
unter Druck stand? Zunächst blieb er auch im April auf einem sehr niedrigen
Niveau: Die hundert führenden Immobilienunternehmen Chinas erzielten einen
Umsatz von lediglich 312 Mrd. Renminbi (RMB). Dass ist ein Rückgang um 45
Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat - und auch 13 Prozent gegenüber dem
Vormonat. Gleichzeitig haben bereits 35 chinesische Städte ihre Einschränkungen
bezüglich des Immobilienerwerbs gelockert, während weitere 24 Städte diese
vollständig gestrichen haben. Denn die derzeit wichtigste Maßnahme zur Lösung
sind die sogenannten "White-Lists". Hier werden über die staatlichen
Banken liquide Mittel unter bestimmten Bedingungen an Immobilienentwickler zur
Verfügung gestellt, um gezielt unvollendete, aber bereits von Endkunden
bezahlte Wohnungsbauprojekte zu Ende zu bringen. Diese unvollendeten Projekte
hatten das Vertrauen der Käufer schwer beeinträchtigt. Nach Angaben des
Ministeriums für Wohnungswesen und Stadt-Land-Entwicklung wurden bis Ende März
bereits fast 2.000 Projekte in die Liste aufgenommen. Diese Projekte erhielten
Kreditzusagen der Banken in einer Gesamthöhe von 469 Mrd. RMB. Das entspricht
rund 65 Mrd. US-Dollar.
Der Bereich ist deshalb so relevant, weil Immobilien zwischen 50 und 70 Prozent des Nettovermögens von chinesischen Haushalten darstellen und sie somit eine zentrale Größe für die Konsumneigung der Verbraucher sind. Trotz einer Sparquote, die mittlerweile 115 Prozent des BIP erreicht, zeigen sich die Haushalte bei Ausgaben weiterhin zurückhaltend. Das Wachstum des realen Einzelhandelsumsatzes in China fällt nach der Pandemie weiter deutlich moderater aus als in den 15 Jahren vor der Krise.
Die neue "Neun-Punkte-Richtlinie" des
Staatsrats
Es liegt folglich im Interesse des Staates, die Ausgabebereitschaft der
Verbraucher anzukurbeln und das früher traditionell in Immobilien investierte
Geld dem Kapitalmarkt zugänglich zu machen. In der jüngsten Veröffentlichung
des Staatsrats Mitte April wurden weitreichende Reformpläne für den Aktienmarkt
dargelegt, die im Rahmen einer 'Neun-Punkte-Richtlinie' eine Reihe von
Maßnahmen vorsehen. Zu diesen zählen die Förderung höherer
Dividendenausschüttungen, der Ausbau des Anlegerschutzes, strengere Überprüfungsmechanismen
bei Börsengängen sowie die Überarbeitung der Delisting-Standards. Diese
Maßnahmen müssen jetzt vom neuen Chef der Regulierungsbehörde umgesetzt werden.
Total Shareholder Return Policy in China
Die ersten Schritte sind ermutigend. Beispielsweise haben Unternehmen des
chinesischen A-Aktienmarktes, an dem Aktien nur in RMB gehandelt werden können,
in den ersten vier Monaten dieses Jahres Aktien im Wert von 73,2 Mrd. RMB
zurückgekauft. Das ist ein deutlicher Anstieg gegenüber den 21,4 Mrd. RMB im
Vergleichszeitraum des Vorjahres 2023. An der Börse Hongkong wurden im ersten
Quartal bereits Rückkäufe im Wert von mehr als 10 Mrd. US-Dollar (für B-Aktien)
bekannt gegeben. Um die Dimensionen zu verdeutlichen: Das gesamte
Bargeldvolumen der Unternehmen im MSCI China entspricht rund der Hälfte der
Marktkapitalisierung des MSCI Asien ex-Japan Index bzw. 12 Prozent des MSCI AC
World (exkl. Finanzwerte).
Tencent und Alibaba
Schauen wir auf zwei bekannte Unternehmen: Die Handelsplattform Alibaba hat
nach eigenen Angaben die Geschwindigkeit der Aktienrückkäufe deutlich erhöht.
Zwischen Januar und März 2024 erwarb das Unternehmen 524 Millionen Aktien im
Wert von 4,8 Mrd. US-Dollar. Dies stellt eine signifikante Steigerung gegenüber
dem Durchschnitt der letzten drei Quartale von 2,6 Mrd. US-Dollar dar. Durch
die Rückkäufe reduzierte sich die Gesamtzahl der Aktien um rund 5 Prozent. Wenn
man die Rückkäufe der letzten zwölf Monate sowie die Dividenden berücksichtigt,
ergibt sich eine Rendite von 8 Prozent.
Zudem hat der Internet-Konzern Tencent seine Dividende auf 3,4 Hongkong-Dollar (HKD) erhöht (2,4 HKD im Jahr 2022) und beabsichtigt, im Jahr 2024 Aktien im Wert von mindestens 100 Mrd. HKD zurückzukaufen (49 Mrd. HKD im Jahr 2023). Das ergibt eine Rendite von fünf Prozent.
China Marktbewertung
Trotz der jüngsten Marktrallye wird der MSCI China aktuell immer noch 54% unter
seinem Höchststand von Februar 2021 gehandelt und ist mit dem 1,2-fachen des
Buchwerts bewertet – der lag im Oktober 2007 schon mal bei 5,3. Das geschätzte
Kurs-Gewinn-Verhältnis des MSCI China notiert aktuell bei 9,9x, was einen
20-prozentigen Discount im Vergleich zum MSCI Emerging Markets bedeutet. Diese
Bewertung bewegt sich am unteren Ende des Spektrums, das seit dem Jahr 2017
beobachtet wurde. Da ist also weiterhin ordentlich Luft nach oben. Vergessen
darf man dennoch nicht, dass das aktuelle makroökonomische Umfeld wesentlich
deflationärer ist als in den meisten vorangegangenen Perioden.
Trend zu mehr Reisen, Sport und Outdoor
Geben die chinesischen Verbraucher denn gar kein Geld mehr aus? Doch. Das Thema
Reisen, Sport und Entertainment hat nach dem Ende der Pandemie einen
anhaltenden Aufschwung bewirkt. Besonders Radfahren, Wandern und Camping sind
zu Spitzenreitern avanciert. Laut Daten von Xiaohongshu, einer führenden
sozialen Medienplattform, verzeichneten die Beiträge zu "Radfahren"
und "Wandern" zwischen Januar und Oktober des vergangenen Jahres
einen Anstieg um das Vier- bzw. Dreifache. Im März 2024 zeigte sich ein überdurchschnittliches
Wachstum bei den Einzelhandelsumsätzen für Sport- und Freizeitartikel, die um
19 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen sind, verglichen mit einem moderaten
Anstieg von 3,1 Prozent bei den gesamten Einzelhandelsumsätzen. Sportartikelhersteller
waren ein klarer Profiteur dieses Trends.
Sogar stärker noch hat die Sehnsucht nach Reisen zugenommen. An den jüngsten chinesischen Feiertagen wie Chinese New Year oder kürzlich der sogenannten Golden Week zum 1. Mai wurden bereits wieder die Reisezahlen aus dem Jahr 2019 übertroffen. Das Segment der internationalen Reise hinkt dabei noch etwas hinterher, da noch nicht alle Flugverbindungen wieder eingerichtet sind. Doch auch das wird nur eine Frage der Zeit sein. Ein großer chinesischer Online-Reiseanbieter ist hier am besten positioniert, um von diesen Entwicklungen zu profitieren. Interessant ist das Unternehmen auch deshalb, weil es mit seiner vor allem in Südostasien immer populärer werdenden App das andere große Investoren-Thema in China bespielen kann: Going global.
Kurzum, der chinesische Verbraucher ist quicklebendig. Er gibt das Geld nur an anderen Stellen und generell vielleicht besonnener als früher aus. Jetzt ist es die Aufgabe der Investoren herauszufinden, was genau diese Trends sind und dort zu investieren.
***
*Quelle: Bloomberg. Alle Index-Angaben auf Basis lokaler Währung. Stand: 30.04.2024.
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