Angesichts einer drohenden Rezession ist ein kurzfristiger Abschwung in der Halbleiterindustrie wahrscheinlich, der sich jedoch auf strukturelle Trends kaum auswirken dürfte. Denn solche Trends sind langfristige Treiber.
17.10.2022 | 10:15 Uhr
In der Halbleiterindustrie wirken aktuell verschiedene Kräfte auf diese Branche ein, deren Produkte an vielen Stellen der globalen Wirtschaft unverzichtbar sind. Die Gemengelage ist kompliziert: Eine Besserung der Lieferkettenprobleme trifft auf Rezessionssorgen, und globale Spannungen insbesondere zwischen den USA und China sorgen für Unsicherheit. Was Anlegerinnen und Anleger jetzt wissen sollten.
Abschwung naht – bereits erhöhte Lagerbestände bei DRAMs
Während im letzten Jahr noch in vielen Branchen und Bereichen ein Chipmangel
herrschte, scheint nun ein Abschwung im Halbleitersektor angesichts der
bevorstehenden weltweiten Rezession unausweichlich. Die entscheidende Frage
wird sein, wie stark dieser ausfallen und wie lange er anhalten wird. Aktuell
sind bei fast allen Halbleiterunternehmen die Auftragsbücher gut gefüllt, was
den Abschwung im nächsten Jahr etwas abfedern könnte. Bereits sichtbar ist
dieser bei Speicherchips, insbesondere den sogenannten DRAMs (Dynamic Random
Access Memory, „flüchtiger Speicher“). Vor allem wichtige Endmärkte wie die für
PCs oder Smartphone schwächeln, DRAM-Spotpreise sind entsprechend im
Jahresvergleich um 33 Prozent gefallen.
Preisentwicklung bei DRAM
Um den Preisdruck nicht noch zu verschärfen, nehmen DRAM-Produzenten ihre Chips
vorerst auf die eigene Bilanz. So stieg der Lagerbestand bei den Produzenten
von drei auf 13 Wochen. Drei Produzenten teilen sich diesen Markt auf:
Marktführer mit 44 Prozent im Jahr 2021 ist Samsung, gefolgt von SK Hynix mit
28 Prozent und Micron mit 23 Prozent. Aber auch in den anderen Vertriebskanälen
ist der Lagerbestand noch erhöht (v. a. bei PC-Herstellern mit rund zwölf
Wochen). Mit geringeren Kapazitätsausweitungen auf der Angebotsseite fürs
nächste Jahr versucht man nun, die erhöhten Lagerbestände perspektivisch wieder
abzubauen. Auch für den gesamten Halbleitersektor sind die Lagerbestände mit
114 Tagen per Ende des zweiten Quartals 2022 im Vergleich zu 101 Tagen im
Fünf-Jahres-Durchschnitt leicht erhöht. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass
mittlerweile alle Unternehmen generell gerade bei Chips höhere Lagerbestände
halten, um Lieferkettenprobleme zu vermeiden. Aktuell prognostizieren Broker
und Marktforschungsinstitute für 2023 einen Umsatzrückgang von fünf bis zehn
Prozent im Halbleitersektor und im Ausrüstungsmarkt einen Rückgang von zehn bis
20 Prozent.
Staatliche Interventionen nehmen zu
Seit geraumer Zeit ist zu beobachten, dass die staatlichen Interventionen
zunehmen. Im Fokus steht hier vor allem China. Die USA wollen möglichst
verhindern, dass es China gelingt, eine eigene Halbleiterindustrie aufzubauen.
So dürfen die US-Ausrüster nicht die neueste Fertigungstechnologie an
chinesische Kunden liefern. Lediglich Maschinen zur Halbleiterfertigung ab 14
Nanometer (nm) sind erlaubt. Neu hinzugekommen ist nun, dass auch keine
Hochleistungsprozessoren mehr ohne Genehmigung geliefert werden können. Da
China der Zugriff auf die neueste Technologie verwehrt wird, kommt der seit
langem geplante Aufbau einer lokalen Halbleiterindustrie nicht voran. Die chinesische
Halbleiterindustrie beschränkt sich auf passive Bauelemente, kleinere DRAM- und
Logik-Produzenten sowie den chinesischen Chipfertiger SMIC ohne Zugang zu
neuester Fertigungstechnologie wie fünf Nanometer. Kurzfristig führen die
zunehmenden Restriktionen zwar teils zu Umsatzverlusten etwa bei NVIDIA (keine
Hochleistungsprozessoren für China mehr). Langfristig dürfte dies aber die
technologische Vorherrschaft von US-Unternehmen noch stärken. Bis auf EUV (von
der Firma ASML aus Holland) sind fast alle wichtigen Technologien in der Hand
einiger weniger US-Unternehmen.
Risikofaktor Geopolitik: Taiwan im Fokus
Auch die geopolitischen Risiken nehmen zu. Ein Einmarsch von China in Taiwan
hätte verheerende Folgen für die gesamte Halbleiterindustrie. 75 Prozent der
ausgelagerten Halbleiterproduktion kommen aus China und Taiwan (TSMC aus Taiwan
ist weltgrößter Chipfertiger). Vor dem Hintergrund sind auch die Bemühungen der
USA und Europas zu sehen, eine eigene Halbleiterfertigung vor Ort aufzubauen.
Die USA gewähren einen 25-prozentigenigen Steuervorteil für eine Produktion in
den USA, nachdem im letzten Jahr bereits ein 52 Mrd.US-Dollar schweres Programm
zum Aufbau einer heimischen Chipfertigung beschlossen worden ist. Europa stellt
43 Mrd. Euro an öffentlichen Mitteln für die Steigerung der
Halbleiterproduktion in der EU bereit.
Ein günstiger Einstiegszeitpunkt?
Oftmals stiegen in der Vergangenheit in Jahren des Abschwungs paradoxerweise
die Halbleiteraktien am meisten. Aktuell bleibt das Umfeld an den Kapitalmärkten
angespannt und ein Einstieg ist dementsprechend noch etwas verfrüht. Steigende
Inflation und Zinsen belasten. Eine in den USA stärker als erwartet
nachlassende Inflation wäre ein Katalysator. Angesichts einer Kurskorrektur von
38 Prozent beim Halbleiterindex SOX ist ein Teileinstieg denkbar. Den richtigen
Einstiegszeitpunkt genau zu finden ist ohnehin schwierig, die langfristigen
Aussichten sind jedoch weiter gut.
Kurzfristiger Abschwung bei DRAM-Herstellern
Nach dem Kurs/Buchwert-Verhältnis bewegen sich die DRAM-Hersteller inzwischen
unter dem historischen Durchschnitt. Der Sektor ist zuerst in den Abschwung
geraten und könnte mit einer konservativeren Kapazitätsplanung für 2023 als
erster die Talsohle erreichen.
Mittelfristig überdurchschnittliche Wachstumsaussichten
Laut World Semiconductor Trade Statistics wuchs der Halbleitermarkt von 1992
bis 2000 mit einem CAGR (Compound Annual Growth Rate) von 13 Prozent, 2002 bis
2007 mit 16 Prozent bzw. von 2008 bis heute mit acht Prozent. Das Wachstum
liegt damit deutlich über dem des weltweiten Wirtschaftswachstums. Wenngleich
diese hohen Zuwachsraten, getrieben durch die Ausbreitung von PC, Internet und
Mobilfunk, wohl zukünftig nicht mehr erreicht werden können, sollten doch Werte
im mittleren bis hohen einstelligen Bereich erzielbar sein. Grund hierfür sind
eine Reihe von Wachstumstreibern wie zunehmende Nachfrage von Cloudanwendung
und Datenzentren, Elektroautos, autonom fahrende Autos, Internet der Dinge,
schneller 5G-Mobilfunk sowie künstliche Intelligenz.
Besonders Ausrüster sind strukturell interessant
Angesichts des anhaltend schwierigen Börsenumfelds sollte man sich aktuell auf
Unternehmen mit guter Marktpositionierung und moderater Bewertung fokussieren
und Titel mit zwar hohem Wachstumspotenzial, aber geringer Profitabilität eher
meiden. Um den Sektor in der Breite abzubilden, bietet sich TSMC an. Die
Taiwanesen sind der weltgrößte Halbleiterfertiger mit einem Marktanteil von 53
Prozent und technologisch führend bei der Fünf-Nanometer-Produktion, der
Umsatzanteil liegt hier im zweiten Quartal bereits bei 21 Prozent. Mittlerweile
hat ein Großteil der Halbleiterunternehmen die Produktion ausgelagert. TSMC
produziert Chips für Kunden wie Apple, AMD, Broadcom oder NVIDIA. Die stark
wachsenden Hochleistungsprozessoren (Umsatzanteil von 43 Prozent, Hauptkunden
NVIDIA und AMD) haben mittlerweile den eher gesättigten Smartphonemarkt (38
Prozent Umsatzanteil, Hauptkunde Apple) als größten Bereich abgelöst.
Gute Aussichten auch für Hochleistungsprozessoren
Strukturell stark nachgefragt sind auch Hochleistungsprozessoren (GPU), die bei
Datenzentren, Cloudanwendungen und bei Künstlicher Intelligenz immer stärker
Anwendung finden. Führend bei sogenannten Discrete GPUs sind NVIDIA mit einem
Marktanteil von 78 Prozent sowie AMD mit 17 Prozent. Intel hat hier
mittlerweile etwas aufholen können und kommt auf einen Marktanteil von immerhin
vier Prozent. Auch der Automobilsektor wächst strukturell, denn seit Jahren
steigt der Halbleiteranteil im Auto. Mit Elektroautos beschleunigt sich dieser
Trend nochmals, da sich hier der Halbleiteranteil nahezu verdoppelt.
Fahrerassistenzsysteme sowie perspektivisch autonomes Fahren benötigen
ebenfalls einen deutlich höheren Halbleiteranteil – besonders Hochleistungsprozessoren,
Lidar- und Radarsensoren werden benötigt. Ein hohes Exposure zum
Automobilsektor haben unter anderem Infineon, NXP und ST Micro.
Ferner finden kundenspezifische Halbleiter, sogenannte ASICs, immer mehr
Verbreitung dank immer höherer Rechenleistung und Energieeffizienz. Broadcom
beispielsweise entwickelt für Google den Hochleistungsprozessor TPU (= Tensor
Processing Unit; neuester, für Google entwickelter Machine
Learning-Supercomputer). Broadcom ist v. a. im Bereich Networking positioniert.
Diverse Bereiche wie Breitbandausbau, 200/400G Switching Technologie, Campus
Upgrade Zyklus sowie WiFi6/6E könnten sich auch im Falle einer Rezession als
weniger zyklische Nachfrager erweisen. Zudem erzielt Broadcom durch die Zukäufe
von CA, Symantec und jüngst VMWare (eine kartellrechtliche Zustimmung steht
hier noch aus) mittlerweile fast ein Viertel des Umsatzes aus relativ stabilem
Softwaregeschäft. So sollte der Gewinn auch im nächsten Jahr auf hohem Niveau
bleiben.
Oft übersehen: Chipdesigner
Oft unterschätzt, jedoch ein immer bedeutsamerer Bestandteil der
Wertschöpfungskette sind Unternehmen, die sich speziell auf Chipdesign
konzentrieren. Hierbei geht es beispielsweise um Fragen der optimalen
Architektur, Vorab-Simulationen und Entwicklung des am besten geeigneten
Schaltkreises. Da diese Ausgaben in der Regel dem Forschungs- und
Entwicklungsbudget unterliegen, werden sie in Krisenzeiten nicht so stark
gekürzt wie etwa Investitionen in die Halbleiterfertigung. Das Marktvolumen ist
mit schätzungsweise 7,5 Mrd. US-Dollar zwar noch relativ klein, jedoch werden
Wachstumsraten von zehn bis 15 Prozent in den nächsten Jahren erwartet.
Unter Druck: Werte von Ausrüstern
Besonders stark unter Druck geraten sind auch Aktien von Unternehmen für
Maschinen zur Halbleiterfertigung. Diese sind in der Regel besonders zyklisch,
und die Gewinne sollten dementsprechend deutlich unter Druck geraten.
Langfristig sind jedoch die Ausrüster besonders aussichtsreich. Der
Fertigungsprozess wird immer anspruchsvoller. Um Halbleiter
hochleistungsfähiger und energieeffizienter zu machen, werden die Strukturen
immer kleiner. TSMC beispielsweise fertigt schon auf fünf Nanometer. Zur
besseren Vorstellung, wie klein ein Nanometer ist, hilft ein Größenvergleich:
Ein Nanometer verhält sich zu einem Meter wie der Durchmesser einer
Ein-Cent-Münze zu dem des Erdballs. Hier gibt es vor allem bei der Belichtung
physikalische Grenzen. Um derartig winzige Strukturen abbilden zu können,
benötigt man ein Fotolithografie-Verfahren mit ausgesprochen starker
ultravioletter Strahlung (EUV). Hier hat ASML mittlerweile eine
Monopolstellung. Im Rahmen von EUV werden aber auch andere wichtige Prozesse
wie das Ätzen der Schaltkreise (Etching) bzw. die chemische
Gasphasenabscheidung (CVD) immer komplexer. Den Markt teilen sich hier Applied
Materials, LAM Research sowie Tokyo Electron auf.
Ausrüstergeschäft: Kapitalintensiv bei langfristig stabilem Wachstum
Insgesamt wird der Fertigungsprozess in fast allen Bereichen immer
kapitalintensiver. Die Investitionen für Halbleiterfertigung stiegen von neun
Prozent im Tief 2014 auf 15 Prozent im Jahr 2021. Der Markt für Ausrüster
dürfte in diesem Jahr den Hochpunkt bei 95 Mrd. US-Dollar (plus zehn Prozent
zum Vorjahr nach bereits plus 40 Prozent im Jahr 2021) erreichen. Im nächsten
Jahr erwarten Marktteilnehmer einen um zehn bis 20 Prozent rückläufigen Markt.
Große Kunden wie TSMC oder Speicherchipproduzenten haben bereits
Investitionskürzungen bzw. -verschiebungen angekündigt. Allerdings könnte der
Markt die Stabilität des Geschäfts unterschätzen. Zum einen haben alle
Ausrüster mittlerweile ein signifikantes stabiles Servicegeschäft (meist 25 bis
35 Prozent Umsatzanteil). Zum anderen besitzen alle Unternehmen ein noch gut
gefülltes Auftragsbuch und können gar nicht alle Aufträge bis Jahresende
abarbeiten, was einen gewissen Sicherheitspuffer für das kommende Jahr 2023.
Langfristig dürfte das Wachstum im Ausrüstermarkt deutlich höher als in der
Halbleiterbranche ausfallen, da die Fertigungsprozesse immer komplexer werden.
Zudem gibt es einen Trend zur Fertigung vor Ort, statt einiger weniger großer
Fabriken in Asien. Vor allem die USA und Europa unterstützen mit Subventionen
den Aufbau einer lokalen Fertigung, um unabhängiger von Asien und China zu
werden.
Fazit: Kurzfristiger Abschwung, aber strukturelle Trends sorgen für langfristig
gute Perspektive
Nach dem starken Kursverfall bei Halbleiterwerten bieten sich sukzessive
Einstiegsgelegenheiten. Im nächsten Jahr scheint zwar ein Abschwung mit
rückläufigen Umsätzen und Gewinnen unvermeidlich, jedoch dürfte der Sektor
langfristig dank struktureller Trends wie vermehrtem Einsatz von
Cloudanwendungen und Datenzentren, Elektroautos, Internet der Dinge, 5G sowie
künstlicher Intelligenz deutlich schneller wachsen als die Weltwirtschaft.
Genaues Timing ist allerdings, wie so oft, schwierig: Eventuell könnte der
Einstiegszeitpunkt noch etwas zu früh sein angesichts des anhaltend schwierigen
Börsenumfelds.
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