Columbia Threadneedle: Wo bleibt die Inflation?

Inzwischen herrscht beinahe Vollbeschäftigung, und eigentlich müsste die Inflation anziehen, doch bislang kommt sie nicht in die Gänge. Werden die Zentralbanken auf Belege für eine Inflation warten, bevor sie die Geldpolitik weiter straffen, oder ist die Phillips-Kurve kein geeigneter Indikator mehr?

17.11.2017 | 09:46 Uhr

Die Volkswirtschaften sind weltweit allmählich wieder über den Berg und steuern geradewegs auf Vorkrisenstandards zu. Aber ein Puzzleteil fehlt noch - die Inflation.

Die Phillips-Kurve ist ein von Zentralbanken verwendetes Modell, das den inversen Zusammenhang zwischen Arbeitslosenquote und Verbraucherpreisinflation beschreibt. Die einfache Regel lautet: Je niedriger die Arbeitslosenquote, desto höher die Inflation (da die Löhne steigen). Angesichts der derzeit anhaltend geringen Inflation bei gleichzeitig sehr niedriger Arbeitslosigkeit - dem merkwürdigsten Phänomen, das den Märkten und Zentralbanken in letzter Zeit begegnet ist – wird diese wirtschaftswissenschaftliche Theorie allerdings in Frage gestellt.

Die US-Notenbank (Fed), die Bank of England (BoE) und die Europäische Zentralbank (EZB) haben Expertennetzwerke geschaffen, um die Gründe für das suboptimale Verhältnis zwischen Wachstum und Inflation sowie dessen Folgen für die Geldpolitik zu untersuchen. Bislang wurde eine Mischung kurz- und langfristiger Einflussfaktoren erkannt. Rohstoffpreise und Wechselkurse können die kurzfristige Inflationsentwicklung gründlich durcheinanderbringen, aber langfristig gleichen sich diese Faktoren in der Regel aus. Von größerem Interesse sind die möglichen Ursachen der langfristig schwachen Inflation und damit auch des Rätsels um die nicht mehr zutreffende Phillips-Kurve. Inzwischen ist man sich weitgehend einig, dass ein Grund für diese Unstimmigkeiten in der Globalisierung zu suchen ist. Allerdings geschieht in der realen Welt nichts losgelöst von allem anderen, und so sind auch hier mehrere Faktoren am Werk, auf die wir in diesem Artikel eingehen.

GRAFIK 1: ANHALTEND SINKENDE INFLATION
(VPI, % IM VERGLEICH ZUM VORJAHR) 


(Quelle: Bloomberg 2017.)

Globalisierung: nicht der einzige Einflussfaktor

Die Globalisierung ist ein wichtiger strukturdynamischer Einflussfaktor, der dafür sorgt, dass die Inflation in den Industrieländern niedrig bleibt. Untersuchungen haben ergeben, dass "der direkte und indirekte Wettbewerb zwischen Volkswirtschaften zunimmt, wenn GWK (globale Wertschöpfungsketten) länger werden, wodurch die Inflation im Inland sensibler auf die globale Produktionslücke reagiert. Dies kann sich auf die Zielkonflikte auswirken, denen sich Zentralbanken bei der Inflationssteuerung gegenübersehen."[1]

Die Phillips-Kurve wurde entwickelt, als Volkswirtschaften noch stärker binnenmarktorientiert waren und eine geringe Arbeitslosigkeit naturgemäß zu höheren Löhnen und Preissteigerungsraten führte. Nun, da die Globalisierung immer stärker an Bedeutung gewinnt, sorgt jedoch der Wettbewerb auf dem weltweiten Arbeitsmarkt dafür, dass die Löhne niedriger bleiben. Das haben die Fed und die BoE in aktuellen Ansprachen hervorgehoben. Es spricht dafür, dass die Volkswirtschaften der länderbezogenen Phillips-Kurve entwachsen sind und sich stattdessen eine globale Phillips- Kurve herausgebildet hat. Warum liegt uns so viel daran, zu den Zinsen und Inflationsraten auf Vorkrisenniveau zurückzukehren, als die Märkte anders aussahen?

Unternehmen haben natürlich Fertigungskapazitäten in Länder verlagert, in denen Arbeitskräfte billiger sind, um die Gewinne zu maximieren. Unterdessen überschwemmt, begünstigt durch den Abbau von Zöllen, billige Importware aus Ländern wie China die Industrieländer und verringert dort den Preis von Produkten. Diese Skaleneffekte üben Druck auf die Preise aus, und so bleibt die Inflation geringer, als wenn weiterhin alles im eigenen Land hergestellt worden wäre.

Durch den Aufschwung des E-Commerce, bei dem Zwischenhändler außen vor gelassen werden, ist es noch einfacher geworden, billigere Produkte zu kaufen. Verbraucher haben die Möglichkeit, sich nach günstigeren Angeboten umzuschauen, und das zwingt Wettbewerber, die Preise auf einem niedrigen Niveau zu belassen. Doch obgleich der Online-Handel rasant wächst, entfällt bisher nur ein Bruchteil der gesamten Einzelhandelsausgaben auf diesen Vertriebsweg. Vielleicht stehen uns also noch weitere Verwerfungen bevor?

Es gibt allerdings auch ein Gegenargument dafür, dass die Globalisierung Hauptursache der niedrigen Inflation ist: Trotz rückläufiger Warenpreise sollte eine Preissteigerung für Dienstleistungen (die in der Regel im Inland erbracht werden) zu beobachten sein. Dem ist jedoch nicht so, und das ist ein eindeutiges Anzeichen dafür, dass hier andere Kräfte am Werk sein müssen.

Technologie bewirkt einschneidende Veränderungen

Eine solche Veränderung ist die "Sharing Economy", die deflationär wirkt und von herkömmlichen Messgrößen für die Inflation nicht erfasst wird. Der moderne Verbraucher ist ein begeisterter Schnäppchenjäger. Unternehmen wie Uber und Airbnb sind typische Beispiele dafür, wie Güter und Dienstleistungen auf neue Art konsumiert werden. Einfach gesagt: Warum sollten Sie ein Produkt kaufen, wenn Sie es auch für einen Bruchteil des Kaufpreises mieten oder mit jemand anderem teilen können? Diese Veränderung sorgt dafür, dass die Preise niedriger bleiben, da sich die Nachfrage verschiebt. Das rasche Aufkommen und Wachstum von "Sharing-Unternehmen" gewinnt täglich an Fahrt, denn dank technologischer Fortschritte können neue Unternehmen auf den Markt drängen und die Geschäftsmodelle "herkömmlicher Unternehmen" zerstören, indem sie Dinge ermöglichen, die wir bisher für unmöglich hielten. Die Zentralbanken müssen einfach einen Weg finden, um mit diesen Entwicklungen Schritt zu halten, wenn sie die wachsende Menge unvollkommener Daten, die sich auf die Inflation auswirken, wirklich verstehen möchten.

In vielen Branchen verstärkt die Entwicklung neuer Technologien tatsächlich den Deflationsdruck. Wir beobachten die rasche Einbindung hochentwickelter Technologie in Fertigungsprozesse, die wachsende Digitalisierung und die Entwicklung innovativer Lösungen und Produkte. All dies wirkt effizienz- und produktivitätssteigernd. Vermutlich werden jedoch nur bestimmte Branchen von einem deutlichen Preisrückgang der Waren betroffen sein. Allerdings dürften die einschneidenden Veränderungen und Verdrängungen, mit denen sich herkömmliche Arbeitskräfte konfrontiert sehen, einen umfassenderen Abwärtsdruck auf die Löhne zur Folge haben.

Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und bei Gewerkschaften

Das veränderte Bild, das Menschen von der Arbeit haben, wird als "Kasualisierung" bezeichnet; es ist durch einen Übergang zu weniger strukturierten und stärker aufgabenorientierten Stellen geprägt. So arbeiten immer mehr Erwerbstätige in Teilzeit oder teilen sich - im Zuge der aufkommenden "Sharing Economy" - einen Arbeitsplatz. Es wird angenommen, dass "dies die Arbeitsqualität in der Volkswirtschaft beeinträchtigt, selbst wenn die Quantität ein seit vielen Jahrzehnten nicht mehr beobachtetes Niveau erreicht".[2] Dies verdeutlicht recht gut, warum die Arbeitslosenquote kein wahrheitsgetreues Bild von der Arbeitslosigkeit vermittelt und sich der Anstieg der Löhne somit verzögert. In Großbritannien beispielsweise sind etwa 43 % aller Erwerbstätigen selbstständig bzw. in Teilzeit, als Zeitarbeiter oder im Rahmen sogenannter Null-Stunden-Verträge beschäftigt. Neben den Gewerkschaften sind es diese Erwerbstätigen, die den Lohndruck für Arbeitnehmer auf breiter Front beeinflussen.

Aufgrund der alternden Bevölkerung in den Industrieländern ist ein Rückgang der Arbeitslosenquote zu verzeichnen, und in der Tat hat bereits die Definition von Arbeitslosigkeit Schwächen. Dies könnte ein Anhaltspunkt dafür sein, warum es so lange dauert, bis die Lohninflation anzieht. Wir erlebten drei Jahrzehnte mit positiven Schocks für den Arbeitsmarkt (die geburtenstarken Jahrgänge in den 60ern, den Aufstieg der Sowjetunion in den 70ern und die Zunahme der Arbeitskräfte in China während der 80er). Verstärkt wurde diese Entwicklung durch den Rückgang der Gewerkschaften im Laufe der letzten Jahrzehnte, und so ergibt sich ein Abwärtsdruck auf die Lohninflation. Gewerkschaften ermöglichen einzelnen Arbeitnehmern, höhere Löhne zu fordern, weil sie für viele sprechen. Da in den USA, Großbritannien und Europa immer weniger Arbeitnehmer Gewerkschaftsmitglieder sind, konnten die Löhne nahezu auf ihren Tiefststand sinken. Auch das trägt dazu bei, dass keine Lohninflation einsetzt. Verstärkt wird diese Machtlosigkeit der Arbeitnehmer bei der Durchsetzung höherer Löhne durch die Globalisierung. Sie führt dazu, dass Arbeitnehmer weniger Preissetzungsmacht auf Landesebene haben, weil Wettbewerb herrscht und die Gefahr besteht, dass Unternehmen an preisgünstigere Standorte abwandern.

In der Arbeitslosenquote werden all diejenigen nicht berücksichtigt, die freiwillig nicht arbeiten. Enthalten sind diejenigen, die einer geringfügigen Teilzeitbeschäftigung nachgehen. Eine sehr niedrige Arbeitslosigkeit führt also nicht unmittelbar zu Lohnsteigerungen. Sollten einige derjenigen, die freiwillig nicht erwerbstätig sind, auf den Arbeitsmarkt zurückkehren, würde sich der Abwärtsdruck auf die Lohnentwicklung noch weiter verstärken. Das ist ein potenzieller Risikofaktor bei der Annahme, dass Lohnsteigerungen absehbar sind.

Ferner lässt sich das Rätsel um die Lohnentwicklung in Industrieländern teilweise lösen, wenn wir erkennen, dass Strukturreformen nach der Krise zur Verringerung der natürlichen Arbeitslosenquoten geführt haben, wie die Bank of England darlegte. So wurden die Messgrößen für Unterauslastung auf dem Arbeitsmarkt breiter gefasst und berücksichtigen jetzt auch freiwillige Unterbeschäftigung. Des Weiteren müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass niedrige Löhne unter anderem eine Folge anhaltend geringer Produktivitätssteigerungen sind. Vielleicht müssen wir einfach etwas mehr Geduld mit der Inflation haben?

Die Politik spielt eine Rolle

Als Bremsklotz für die Inflation in den USA erweist sich die Aufwertung des US-Dollars nach der Wahl von Präsident Trump und die Enttäuschung darüber, dass dieser seine politischen Maßnahmen nicht so einfach wie versprochen umsetzen kann. Verschärfend wirkt sich ein von der chinesischen Wirtschaftspolitik ausgelöster Preisverfall bei Rohstoffen aus, der die Inflation ebenfalls dämpft. Damit wir eine Trendwende bei der Inflation erleben, müsste Präsident Trump seine Wahlversprechen einlösen und deutliche Konjunkturanreize setzen. Da die Abschaffung von Obamacare eine Steuerreform verzögert, schwinden die Aussichten darauf zunehmend. Während wir ungeduldig darauf warten, dass die Politiker zu einer Einigung kommen, sehen wir zu, wie die Inflation noch weiter unter den angestrebten Wert von 2 % rutscht, hoffen jedoch darauf, dass sich die bislang kaum erkennbare Lohninflation einstellt.

Jedes Mal, wenn die Inflation diesen angestrebten Wert von 2 % unterschreitet, untergräbt das die Glaubwürdigkeit des Offenmarktausschusses (FOMC) der US-Notenbank. Wie Janet Yellen bereits äußerte, könnte dies "dazu führen, dass es zu abweichenden Inflationserwartungen kommt und sowohl die tatsächliche Inflation als auch die Konjunktur volatiler werden."[3]

Da auf der anderen Seite des Atlantiks nun der EU-Austritt Großbritanniens ansteht, ist es wichtig zu verstehen, wie sich die Globalisierung auf die Inflation auswirkt. Dann können wir versuchen, uns auf die "Entglobalisierung" in Großbritannien einzustellen. Ähnliche Gedanken äußerte Mark Carney, der vor Kurzem in einer Ansprache[4] die Frage stellte: "Wenn die Globalisierung zu einem Rückgang der Inflation führt, wird der Brexit die Inflation dann nicht ankurbeln?"

Die Hauptargumente für eine inflationsbegünstigende Wirkung des Brexits sind Zölle, eine Verringerung des globalen Arbeitskräfteangebots und Beeinträchtigungen der Wertschöpfungsketten, die sich von Europa aus nach Großbritannien erstrecken. All diese Faktoren würden zu einem steileren Anstieg der Phillips-Kurve beitragen. Auf kurze Sicht wird der Brexit die Inflation natürlich erst einmal dämpfen: Aktuell gehen 44 % aller britischen Exporte in die EU, und hier dürfte es zu einer "Brexit-Pause" kommen, während Handelsabkommen vereinbart und weltweite Lieferketten etabliert werden. Dessen ungeachtet ist nach dem Brexit Folgendes zu erwarten: "In die Inflationserwartungen fließen sowohl inflationsbegünstigende als auch inflationsdämpfende Faktoren ein. Zu den begünstigenden Faktoren zählen die Auswirkungen des Wechselkurses, die importierte Inflation aufgrund höherer Zölle sowie eine infolge von Einflüssen der Lieferketten und des Arbeitsmarktes steiler ansteigende Phillips-Kurve. Inflationsdämpfende Faktoren sind beispielsweise die verringerte Nachfrage nach britischen Produkten und Dienstleistungen in der EU, negative Auswirkungen auf das Ausgabeverhalten, so auch auf geschäftliche Investitionen, da mit geringerem Wachstum gerechnet wird, und die Einflüsse der Unsicherheit auf die Binnennachfrage."[5]

Fazit

Letztlich kommt es eigentlich nicht darauf an, ob die langfristig niedrige Inflation durch die Globalisierung, technologische Entwicklungen, eine geringere Anzahl an Gewerkschaften oder Reformbedarf bei den Methoden zur Messung der Arbeitslosigkeit bedingt ist. Das Hauptproblem besteht darin, dass eine langfristig niedrige Inflation unterhalb der angestrebten Inflationswerte die Zentralbank bei einem negativen Schock dazu zwingen könnte, weitere Konjunkturanreize zu setzen, wenn die Zinsen bereits nahe der Untergrenze von null liegen.

In einer von Unsicherheit geprägten Welt dürfte ein aktives Management die beste Möglichkeit darstellen, um an diesen unsicheren Märkten zu bestehen, denn die derzeitigen Vorgänge in der Wirtschaft sind mit herkömmlichen Modellen offensichtlich nicht zu verstehen. Dank des Vorteils, den unsere globale Sichtweise uns verschafft, sind wir in der Lage, Wirtschafts- und Marktunvollkommenheiten zu erfassen und diese für unsere Kunden zu meistern.

 

1 The Globalisation of Inflation: The Growing Importance of Global Value Chains, CESifo-Arbeitspapier Nr. 6387, https://www.econstor.eu/bitstream/10419/161826/1/cesifo1_wp6387.pdf

2 Bank of England, Ansprache: "Work, Wages and Monetary Policy", Andrew Haldane, 20. Juni 2017.

3 Janet Yellen, Fed-Ansprache: "Inflation, Uncertainty, and Monetary Policy" vom 26. September 2017.

4 Bank of England, Ansprache: "[De]Globalisation and inflation", Mark Carney, 18. September 2017.

5 Blanchard, O., Cerutti, E. und Summers, L. (2015), ebd. Bank of England, Ansprache: "[De]Globalisation and inflation", Mark Carney, 18. September 2017.

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