William Blair: Indiens Machtpolitik

Bislang gab es für die Märkte im Jahr 2025 viel zu verdauen: die Zölle der Trump-Regierung, die jüngsten Investitionszusagen Deutschlands, die Auswirkungen des DeepSeek-Moments und eskalierende militärische Konflikte (darunter nun auch einer an der Grenze zwischen Indien und Pakistan).

14.05.2025 | 10:07 Uhr

Inmitten all dieser Ereignisse hätte vieles übersehen werden können – insbesondere das am 6. Mai angekündigte Handelsabkommen zwischen Indien und dem Vereinigten Königreich.

Nach dreijährigen Verhandlungen ist es das bedeutendste bilaterale Handelsabkommen, das das Vereinigte Königreich seit seinem Austritt aus der Europäischen Union (EU) abgeschlossen hat.

Das Abkommen sieht vor, die Zölle auf 99 % der indischen Exporte in das Vereinigte Königreich zu beseitigen und die Zölle auf 90 % der britischen Waren, die nach Indien eingeführt werden, zu senken, wobei die meisten innerhalb eines Jahrzehnts zollfrei werden sollen. Insbesondere werden die Zölle auf britische Automobile, die nach Indien eingeführt werden, von 100 % auf 10 % sinken, und die Zölle auf Whisky, der nach Indien eingeführt wird, werden von 150 % auf 75 % sinken und in den nächsten 10 Jahren auf 40 %.

Das Vereinigte Königreich schätzt, dass diese Zollsenkungen den Handel zwischen den beiden Ländern bis 2040 um 34 Milliarden US-Dollar steigern werden. Das ist deutlich mehr als die 23 Milliarden US-Dollar, die 2024 zwischen den beiden Ländern gehandelt wurden. (Zum Vergleich: Der Warenhandel zwischen Indien und den Vereinigten Staaten belief sich 2024 auf rund 125 Milliarden US-Dollar.) Das Vereinigte Königreich ist gemessen an der Größe der 16. Handelspartner Indiens, sodass es noch viel Raum für Verbesserungen gibt.

Indien dürfte am meisten von dem Handelsabkommen profitieren.

Natürlich wird dieses Abkommen für sich genommen keine besonders großen Auswirkungen auf die Wirtschaft der einzelnen Länder haben. Aber es gibt interessante Erkenntnisse, die man daraus gewinnen kann.

Erstens dürften zwar beide Länder von dem Abbau der Handelshemmnisse profitieren, doch dürfte Indien am meisten von diesem Abkommen profitieren. Zwar gilt die Doppelbesteuerungsabkommen für beide Länder, doch profitieren indische Unternehmen besonders von der Befreiung von den Sozialversicherungsbeiträgen für indische Arbeitnehmer, die bis zu drei Jahre im Vereinigten Königreich arbeiten – ein Vorteil, der wahrscheinlich die Wettbewerbsfähigkeit indischer IT-Dienstleistungsunternehmen im Vereinigten Königreich stärken wird.

Zwar werden die Zölle auf den Großteil der indischen Exporte abgeschafft, doch könnten britische Unternehmen in Branchen wie Technologie, Pharmazeutika und Rechtsdienstleistungen enttäuscht sein, dass ihnen keine Zugeständnisse gemacht wurden.

Indiens starke Verhandlungsposition unterstreicht seinen wachsenden Einfluss auf der Weltbühne. Indien gehört zu den größten Märkten der Welt und verfügt unserer Meinung nach über beispiellose Wachstumsaussichten. Es zeichnet sich auch als wichtige Demokratie aus, die relativ ungebunden ist, was ihr in Zeiten zunehmender geopolitischer Spannungen größere strategische Flexibilität verschafft. Dies ist die erste von mehreren laufenden Handelsverhandlungen für Indien, die wahrscheinlich auf die Europäische Union und den Golf-Kooperationsrat ausgeweitet werden. Das Handelsabkommen mit Großbritannien dürfte als Blaupause für die Verhandlungen mit der EU dienen.

Indien verfügt über einige der gleichen Voraussetzungen für Fortschritte wie China in den frühen 1990er Jahren.

Natürlich beschäftigen sich auf Indien fokussierte Anleger mit weitaus dringlicheren Themen – insbesondere mit der Entwicklung der Spannungen mit Pakistan und dem Fortschritt der Handelsverhandlungen mit den Vereinigten Staaten. Die Ergebnisse sind zwar ungewiss, doch scheint Indien in beiden Bereichen über bedeutenden Einfluss zu verfügen. US-Beamte haben bereits signalisiert, dass Indien für ein Handelsabkommen oberste Priorität hat, und das jüngste Abkommen mit Großbritannien dürfte Indiens Position stärken. Allerdings ist noch nichts entschieden. Es wird wahrscheinlich Knackpunkte geben, vor allem bei den Zöllen auf Agrarprodukte und den ausländischen Direktinvestitionen im indischen Einzelhandel.

Dennoch bleiben wir hinsichtlich der langfristigen Wachstumsaussichten für Indien optimistisch. Indien verfügt über einige der gleichen Voraussetzungen für Fortschritte wie China Anfang der 1990er Jahre, darunter eine positive demografische Entwicklung, vorteilhafte Kaufkraftparitäten (KKP) und eine gute Ausgangsposition für wirtschaftliches Wachstum. Indien wird wahrscheinlich einen ganz anderen Weg einschlagen als China in den letzten 35 Jahren – wir gehen beispielsweise von langsameren und volatileren Wachstumsraten aus, und es dürfte für Indien schwierig werden, eine ähnliche Produktionsbasis wie China aufzubauen. Der Podcast von William Blair vom Mai 2024 mit Raghuram Rajan, Professor für Finanzwesen an der Booth School of Business der Universität Chicago – „India's Wake-Up Call“ – bietet interessante Einblicke in dieses Thema.

Indien sieht sich bei der Ausweitung seiner Exportbasis für Industriegüter mit einem schwierigeren globalen Umfeld konfrontiert als China im Jahr 1992. Trotzdem gibt es unserer Meinung nach kein anderes großes Land, das in den kommenden Jahren ein ähnliches Potenzial hat wie Indien, einen wachsenden Anteil am globalen Handel und Kapitalfluss oder sogar an der globalen Wirtschaftstätigkeit zu erlangen. Das Handelsabkommen mit dem Vereinigten Königreich ist nur ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur Verwirklichung dieses Potenzials.

Ian Smith, Partner, ist Portfoliomanager im globalen Aktienteam von William Blair.

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