WisdomTree: Brent and WTI – Die Geschichte zweier Benchmark

WisdomTree: Brent and WTI – Die Geschichte zweier Benchmark
Rohstoffe

Brent und West Texas Intermediate (WTI) repräsentieren die beiden anerkanntesten Öl-Benchmarks. In der Regel beziehen sich Marktteilnehmer auf den einen oder anderen oder aber auch auf beide Richtwerte.

08.05.2020 | 08:24 Uhr

Mobeen Tahir

Mobeen Tahir, Associate Director, Research, WisdomTree


Obwohl WTI und Brent recht ähnliche chemische Eigenschaften aufweisen, gibt es wichtige Unterscheidungsmerkmale. Die Finanzmärkte erkennen diese Unterschiede an und bewerten daher beide Benchmarks auf unterschiedliche Weise. So existieren kontrastierende Merkmale in Bezug auf den Ort der Ölförderung, die Lagerung und den Transport des Öls sowie die Art und Weise, wie die Ölsorte auf internationalen Märkten gehandelt wird. Diese Unterschiede erklären nicht nur die historische Preisdiskrepanz, sondern helfen dabei zu verstehen, weshalb sich die beiden Sorten während der Coronavirus-Pandemie und der daraus resultierenden Marktvolatilität unterschiedlich verhalten haben. Es geht zunächst darum, die Unterscheidungsmerkmale zu vergleichen und eine neue Sichtweise auf die beiden Benchmarks zu gewinnen. Nachfolgend werden die jüngsten Geschehnisse - als die WTI-Preise in den negativen Bereich abstürzten- beleuchtet. Abschließend werden die Kräfte skizziert, die den flüssigen Rohstoff in Zukunft prägen werden. 

„Same, same, but different“

In Charles Dickens Literaturvorlage "A tale of Two Cities" opfert Sydney Carton sein Leben, um Charles Darnay, den Ehemann seiner Geliebten zu retten, indem er seinen Platz im Gefängnis einnimmt, kurz bevor er während der Französischen Revolution auf die Guillotine gebracht wird. Dank der unheimlichen Ähnlichkeit zwischen sich und Darnay kann Syndey diesen selbstlosen Akt der Tapferkeit vollziehen. Die meisten Menschen wären genauso wenig in der Lage, den Unterschied zu erkennen, wenn ein Fass WTI durch ein Fass Brent ersetzt würde, so groß ist ihre Ähnlichkeit. Sowohl Brent als auch WTI werden als “leicht“ und “süß“ bezeichnet. Sie sind "leicht" im Sinne der Schwerkraft des American Petroleum Institute (API). Eine API-Schwerkraft von mehr als 10 macht sie leicht und lässt sie auf Wasser schwimmen, während eine API-Schwerkraft von weniger als 10 sie zum Sinken bringt. In ähnlicher Weise weisen beide einen niedrigen Schwefelgehalt auf, was sie "süß" und leicht raffinierbar macht (siehe Abbildung 01).

Abbildung 1 Brent und WIT mit ähnlicher chemischer Zusammensetzung

Abbildung 1 Brent und WIT mit ähnlicher chemischer Zusammensetzung

Quelle: Energy Information, McKinsey & Company, WisdomTree. Die historische Performance ist kein Hinweis auf die zukünftige Performance, und alle Anlagen können an Wert verlieren. Sie können nicht direkt in einen Index investieren.

Doch obwohl sich Carton und Darnay ähnelten, waren sie Individuen mit deutlichen Unterschieden. Auch Brent und WTI haben trotz ihrer Ähnlichkeit ihre Disparitäten. Brent Rohöl wird aus der Nordsee gewonnen. Die Erdölförderung aus Europa, Afrika und dem Nahen Osten neigt daher dazu, Brent als Hauptmaßstab zu betrachten. Sie macht rund zwei Drittel des international gehandelten Rohöls aus. Die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) - eine zwischenstaatliche Organisation, der 13 wichtige Erdölförderländer sowie deren 10 Partnerländer angehören (gemeinsam als OPEC Plus bezeichnet) - verwendet in der Regel ebenfalls die Sorte Brent als Richtwert für den Ölpreis. Im Gegensatz dazu wird WTI hauptsächlich aus Texas bezogen, die meisten Ölproduzenten in den USA verwenden demzufolge WTI als Hauptbezugsgröße.

Abbildung 2: WTI typischer Weise in der vergangenen Dekade mit einem Abschlag gegenüber Brent gehandelt

Abbildung 2: WTI typischer Weise in der vergangenen Dekade mit einem Abschlag gegenüber Brent gehandelt

Quelle: WisdomTree, Bloomberg. Stand der Daten: 29. April 2020. Spread berechnet als Differenz zwischen den Preisen der generischen ersten Futures-Kontrakte von Brent und WTI. Die historische Performance ist kein Hinweis auf die zukünftige Performance, und alle Investitionen können an Wert verlieren. Sie können nicht direkt in einen Index investieren.


Brent und WTI wurden schon immer zu unterschiedlichen Preisen gehandelt, woraus sich eine Preisspanne zwischen Brent und WTI ergibt (Abbildung 02). Rein qualitativ gesehen ist WTI gegenüber Brent leicht im Vorteil, da es aufgrund seines geringeren Schwefelgehalts mäßig "süßer" und damit leichter zu veredeln ist. Aus diesem Grund müsste WTI theoretisch mit einem Aufschlag gegenüber Brent gehandelt werden. Während eines großen Teils der ersten Dekade dieses Jahrhunderts wurde WTI tatsächlich mit einem Aufschlag gehandelt, d.h. die Spanne zwischen Brent und WTI war negativ. In den letzten zehn Jahren jedoch brachte die Schieferrevolution in den USA große Ölmengen auf den Markt und die USA zu einem der größten Ölproduzenten der Welt gemacht. Die Schieferrevolution bezieht sich auf eine Kombination aus technologischen Verbesserungen und finanzieller Infrastruktur, die es den USA ermöglicht, Öl aus wenig durchlässigen Schiefer-, Sandstein- und Karbonatgestein-Formationen in größeren Mengen als je zuvor zu fördern. Die Schieferölindustrie wuchs demzufolge seit 2011 rapide und machte im vergangenen Jahr 63 Prozent der gesamten US-Rohölproduktion aus (nach Angaben der US Energy Information Administration). In Übereinstimmung mit den wirtschaftlichen Grundsätzen von Angebot und Nachfrage führte die Zunahme des Gesamtvolumens der Ölförderung in den USA zu einem Abwärtsdruck auf WTI. Die Spanne zwischen Brent und WTI war in den letzten zehn Jahren im Allgemeinen positiv.

Ein weiterer Grund für die Differenz zwischen Brent - WTI liegt in der logistischen Herausforderung für die USA, das Öl von den im Binnenland gelegenen Produktionszentren durch ein Netz von Pipelines zu transportieren und nach Übersee zu verschiffen. Dies wirkt sich negativ auf die Übersee-Nachfrage nach Öl aus den USA (WTI) aus. Im Gegensatz dazu wird Brent auf oder näher am Meer gefördert, so dass es einfacher ist, seine Ziele in Übersee zu erreichen. Die USA investieren jedoch massiv in ihre Pipeline-Infrastruktur, um große Ölschiffe von ihren Küsten zu internationalen Käufern schicken zu können. Es wird erwartet, dass mehrere solcher Infrastrukturprojekte 2021 bis 2022 abgeschlossen sein werden, sodass ein Anstieg der Nachfrage nach WTI und damit eine Verengung der Differenz zu Brent möglich ist.

Der historische Crash bei WTI

Die obige Erklärung zur Spanne zwischen den beiden Benchmarks spart den beispiellosen Ausschlag am 20. April 2020 aus. Was also steckt hinter diesem anomalen Ereignis?

Am Montag, 20. April 2020, erlebten die Märkte einen historischen Absturz des WTI-Preises (Abbildung 03). Er ereignete sich am Tag vor Ablauf des aktiven Nymex WTI-Future-Kontrakts an der Nymex. Dieser Kontrakt, der zwischen dem 01. Mai und dem 31. Mai Öl liefern sollte, stürzte in den negativen Bereich ab, da sich die Öllagerbestände in den USA sehr stark verknappten. Infolge der Coronavirus-Pandemie kam es zu einem beträchtlichen Zusammenbruch der Ölnachfrage, einer Blockade ganzer Länder und einem Erliegen der Wirtschaftstätigkeit. Vor diesem Hintergrund reichte die Verringerung der Ölproduktion nicht aus, um die Angebotsschwemme auf dem Markt auszugleichen. Der Öl-Hauptumschlagplatz in Cushing, Oklahoma, näherte sich der Grenze seiner Lagerkapazitäten, wobei zusätzliche Kapazitäten wahrscheinlich bereits vermietet oder für andere Zwecke vorgesehen waren. Dieser akute Druck, so kurz vor dem Auslaufen der Kontrakte zum Zeitpunkt der Abrechnung, trug zu diesem negativen Preis bei. Diejenigen, die die physische Lieferung aus dem auslaufenden Terminkontrakt entgegennahmen, wurden dafür bezahlt, das Öl abzunehmen und einen Platz für die Lagerung zu finden. Der Mai-Kontrakt lief am folgenden Tag in leicht positivem Bereich aus. Als der Juni-Kontrakt nach dem Auslaufen des Mai-Kontrakts zum aktiven Kontrakt wurde, erholten sich die Preise weiter, da die Frage der Juni-Lieferungen, die das gleiche Problem verursachten, zumindest zu diesem Zeitpunkt weniger beunruhigend war.

Abbildung 3: WTI-Crash

Abbildung 3: WTI-Crash

Source: WisdomTree, Bloomberg. Stand der Daten: 29. April 2020. Die historische Performance ist kein Hinweis auf die zukünftige Performance, und alle Anlagen können an Wert verlieren.


Ein vergleichbarer Absturz blieb bei Brent aus. Der Hauptgrund dafür ist, dass es sich beim der an der New York Mercantile Exchange (NYMEX) gehandelten Ölsorte WTI um einen lieferbaren Terminkontrakt handelt. Bei Ablauf des Terminkontrakts erhält der Inhaber des Terminkontrakts demzufolge die Lieferung des Basiswerts, d.h. Öl-Fässer (Barrels). Die an der Intercontinental Exchange (ICE) gehandelte Ölsorte Brent verfügt über ein Barabrechnungsverfahren, bei dem der Inhaber des Futures-Kontrakts bei seinem Verfall die Lieferung des Basiswerts nicht übernehmen muss. Lagerungsfragen stellen daher für Investoren in WTI-Futures ein direkteres Risiko dar.

Abgesehen von dieser Eigentümlichkeit im Zusammenhang mit dem Futures-Handel bewegen sich die beiden Benchmarks im Allgemeinen mit einem hohen Korrelationsgrad (Abbildung 04). Auf dem Höhepunkt der Coronavirus-Pandemie im April brach die weltweite Ölnachfrage um ein Drittel ein. Bald darauf führten die großen Ölproduzenten Saudi-Arabien und Russland einen Preiskrieg. Diese Vorgänge lösten einen doppelten Schock für Öl aus, da die Lieferanten die Schleusen zu einem Zeitpunkt öffneten, als die Nachfrage gerade abgestürzt war. Beide Benchmarks erlebten infolgedessen eine gravierende Preisschwäche. Da jedoch davon auszugehen ist, dass politische Entscheidungen der OPEC Plus die Preise für Brent stärker beeinflussen werden als die für WTI, bot die von der Gruppe Anfang April getroffene Vereinbarung  über die Kürzung der Lieferungen für Brent-Öl etwas mehr Abfederung.

Abbildung 4: Preise von Brent und WTI bewegen sich typischerweise mit hoher Korrelation

Abbildung 4: Preise von Brent und WTI bewegen sich typischerweise mit hoher Korrelation

Quelle: WisdomTree, Bloomberg. Stand der Daten: 29. April 2020. Die historische Performance ist kein Hinweis auf die zukünftige Performance, und alle Anlagen können an Wert verlieren.


Was passiert als nächstes?

Mit einem tieferen Verständnis für die Kräfte, die beide Benchmarks treiben, ist das historische und jüngste Preisverhalten nachvollziehbarer. Aber die alles entscheidende Frage ist: Was passiert als nächstes? Das Schicksal der Ölpreise hängt stark davon ab, wie schnell die Welt die Pandemie überwinden und die Wirtschaftsmotoren wieder zum Laufen bringen kann. Die Volatilität der Ölpreise könnte in den kommenden Wochen oder sogar über Monate hinweg anhalten, solange bis die Unsicherheit in Bezug auf die Pandemie und die Abschottung abnimmt. Das relative Preisverhalten von WTI und Brent in diesem Zeitraum wird davon abhängen, inwieweit die Produzenten in den USA und der OPEC Plus die Lieferungen kürzen, um den Markt auszugleichen.

Wir hoffen jedoch, in der zweiten Hälfte dieses Jahres ein optimistischeres Bild der Welt zeichnen zu können. Die Ölpreise werden sich aufgrund des Überangebots, der zersplitterten OPEC Plus Staaten und eines verbeulten globalen Wirtschaftsmotors möglicherweise nicht schnell wieder auf den Stand vom Februar dieses Jahres zurückkehren. Nichtsdestotrotz wird die Welt nach all den Beschränkungen zu einer gewissen Normalität zurückkommen. Die Hersteller werden ihre Maschinen wieder in Betrieb nehmen, die Autos werden auf die Straßen zurückkehren und die Flugzeuge wieder abheben. Den Erwartungen zufolge dürfte die Nachfrage nach Öl dann wieder steigen. Und während sich im Roman von Dickens ein Protagonist opfern musste, um den anderen zu retten, sollten in dieser Geschichte beide Grundpfeiler beider Benchmarks wieder aufleben, sobald die Krise hinter uns liegt.

[1] Die OPEC Plus-Vereinbarung beinhaltete Förderkürzungen von 9,7 Millionen Barrel pro Tag (mb/d) für den Zeitraum von Mai bis Juni 2020 in Relation zum Oktober 2018, die sich bis April 2022 auf 5,8 mb/d verlangsamen. Siehe zudem Blog-Beitrag OPEC+ reaches a historic deal: but is it enough?

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