Robeco: Europa nimmt wieder Fahrt auf

Marktausblick

Die Impffortschritte werden es Europa ermöglichen, bei der Konjunkturerholung mit den USA und China gleichzuziehen, sagt Strategieexperte Peter van der Welle.

10.06.2021 | 09:05 Uhr

Annähernd die Hälfte aller europäischen Erwachsenen hat mittlerweile mindestens eine Impfung mit den verfügbaren Covid-19-Impfstoffen erhalten, die Infektionsraten sind drastisch gefallen und die Lockdowns auf dem Kontinent werden schrittweise gelockert.

„Nach dem Ende der erneuten Rezession, die im ersten Quartal dieses Jahres endete, zieht Europa mittlerweile mit den Konjunkturerholungen in China und den USA gleich“, sagt Peter van der Welle, Strategieexperte im Multi-Asset-Team von Robeco.

„Die Impfraten liegen zwar noch etwas unterhalb derer in den USA und in Großbritannien, doch mit zunehmendem Impftempo beginnt sich die Lücke zu schließen. In Deutschland haben rund 50 % der Bevölkerung inzwischen mindestens eine Impfung erhalten, in Frankreich und den Niederlanden sind es rund 40 %.

„Der größte Fortschritt war die wieder steigende Mobilität in den entwickelten Ländern infolge der Lockerung der Lockdowns, insbesondere in Europa.“

Robeco

„Das verleiht natürlich dem Dienstleistungssektor Schub. Dementsprechend steigt das Vertrauen der Unternehmen sowohl im Dienstleistungs- als auch im Gütersektor an. Einige der entsprechenden Kennziffern liegen mittlerweile auf 15-Jahres-Hochs. Die Stimmung im Dienstleistungssektor befindet sich sogar auf dem höchsten Stand der letzten 17 Jahre. Das ist sehr vielversprechend, was das zu erwartende BIP-Wachstum im zweiten Quartal angeht.

Drei Hauptfaktoren

Nach Ansicht von Peter van der Welle sprechen drei Hauptfaktoren für Optimismus in Bezug auf das Wirtschaftswachstum in Europa. „Der wichtigste und ausgeprägteste Faktor, der Europa zugutekommt, sind die derzeit hohen Ersparnisse. Die Leute werden einen starken Anreiz zur Verausgabung dieser Mittel haben, wenn im Zuge des Erfolgs der Impfprogramme in der zweiten Jahreshälfte die Volkswirtschaften wieder ganz geöffnet werden“, sagt er.

„In Deutschland lag die Sparquote der Konsumenten gemessen am gesparten Anteil des Einkommens im ersten Quartal bei 20 % – ein historisch ungewöhnlich hoher Wert. Die Annahme liegt nahe, dass die Leute darauf aus sind, wieder mehr für Dienstleistungen wie beispielsweise Reisen auszugeben, wenn sie das in der zweiten Jahreshälfte tun können. Auf mittlere Sicht dürfte sich der Abbau der Ersparnisse beschleunigen.“

robec

„Der zweite Faktor ist der, dass der fiskalpolitische Schub im Euroraum noch etwas länger anhalten wird. So sind nun Ausgaben im Rahmen des EU Recovery Funds in Höhe von rund 750 Mrd. EUR freigegeben worden. Diese teilen sich auf Zuschüsse und Kredite auf, die bis etwa 2026 verteilt werden.“

„Wenn die Erste-Hilfe-Maßnahmen am Ende von zielgerichteteren Leistungen abgelöst werden, dürfte dies die Wirtschaftsleistung in den Peripheriestaaten beflügeln. Indem die EZB die realen Zinsen für längere Zeit auf historisch niedrigem Niveau hält, wird sie ein glaubwürdiger Finanzier der Staatsausgaben bleiben, was eine vollständige Erholung begünstigt.“

Keine haushaltspolitische Klippe

Wie Peter van der Welle sagt, haben die Mitglieder des EZB-Boards kürzlich betont, dass die Eurozone eine haushaltspolitische „Klippe“ vermeiden sollte. Demnach sollten sowohl die geld- als auch fiskalpolitischen Anreize vorerst fortbestehen. Noch nicht abgeschlossen ist die Erholung der Wirtschaftsleistung im Euroraum, die noch vier Prozentpunkte unterhalb des BIP im Jahr 2019 liegt.

„Angesichts einer relativ hohen Produktionslücke dürfte sich der Anstieg der Kerninflation im Vergleich zu den USA in Grenzen halten“, sagt er. „Das spricht dafür, dass die EZB neben ihren Unterstützungskäufen an den Finanzmärkten ihre großzügige Geldpolitik beibehält.“

„Spiegelbildlich dazu hat die EU-Kommission die Durchsetzung der Maastricht-Verschuldungskriterien bis Anfang 2023 ausgesetzt. Somit erhalten die Länder auch in dieser Hinsicht mehr fiskalpolitischen Spielraum.“

Politischer Widerstand gegenüber sparsamer Haushaltsführung

Es gibt auch eine politische Dimension, da die Politik in Europa wahrscheinlich populistischer und linksgerichteter werden wird, zum Teil in Reaktion auf die steigende Einkommensungleichheit nach der Pandemie. Von daher ist mit mehr Widerstand gegen eine künftig sparsamere Haushaltsführung zu rechnen, sagt Peter van der Welle.

„Verfechter einer sparsamen Haushaltspolitik werden es dieses Jahr schwerer haben als nach der Euro-Schuldenkrise des Jahres 2011. Der Grund dafür ist ein Umschwung zugunsten populistischer und linksgerichteter Kräfte“, sagt er.

„Bei den Umfragen zu den deutschen Bundestagswahlen im September schneiden die „Grünen“ derzeit gut ab. Betrachtet man die derzeitigen Koalitionsgespräche in den Niederlanden, bestehen dort ebenfalls leicht linksgerichtete Tendenzen.“

Wachstum des Welthandels

Der dritte Faktor ist die Tatsache, dass der Welthandel wieder seine alte Stärke erreicht hat. Dies sollte der Wirtschaft in Europa zugutekommen, so Peter van der Welle. „Die Eurozone ist im großen Ganzen ein offener Wirtschaftsraum und reagiert dementsprechend sensibel auf die Entwicklung des Welthandels, speziell mit Blick auf China“, sagt er.

„Auch wenn der nachlassende Kreditimpuls in China dafür spricht, dass die Importnachfrage Chinas gegen Jahresende nachlassen könnte, signalisieren die Kennzahlen für das Vertrauen im Produzierenden Gewerbe derzeit noch eine anhaltende Expansion.“

„Darüber hinaus könnte es auch zu positiven Effekten der umfangreichen fiskal- und geldpolitischen Anreize in den USA kommen, wenn die US-Verbraucher verstärkt Güter und Dienstleistungen aus Europa nachfragen.“

„Alles in allem wird die maßgebliche treibende Kraft ein von starkem Konsum und hoher Exportnachfrage getriebenes Wachstum sein, insbesondere im Dienstleistungssektor, im Umfeld einer lockeren EZB-Geldpolitik und einer im Hinblick auf die Verschuldungsgrenzen nachsichtigen EU-Kommission. Dies spricht für unser Basisszenario mit einem Umfeld anhaltenden Wirtschaftswachstums und steigenden Inflationsdrucks.“

Diesen Beitrag teilen: