Silber auf Rekordkurs: Ist das Edelmetall nun teuer oder günstig?
Seit einigen Monaten zieht der Silberpreis kräftig nach. In unserer sechsteiligen Serie gehen wir der Frage nach, inwieweit das „Gold des kleinen Mannes“ vor dem Beginn einer Neubewertung steht. Teil 4: Vom Gold-Silber-Ratio zur realen Kaufkraft03.11.2025 | 13:00 Uhr von «Tim Bröning»
Silber hat sich in den vergangenen Monaten kräftig verteuert und zwischenzeitlich ein nominelles All-Time-High erreicht, Gold markiert historische Rekorde. Doch was bedeutet das eigentlich? Ist Silber damit bereits überbewertet – oder immer noch günstig? Die Antwort liegt nicht im absoluten Preis, sondern im Verhältnis zwischen Gold und Silber, zwischen nominalem und realem Wert, zwischen Marktstimmung und makroökonomischer Realität.
Gold-Silber-Ratio: Der lange Blick durchs Teleskop
Das Gold-Silber-Ratio, also das Preisverhältnis von Gold zu Silber, ist seit Jahrhunderten der Gradmesser für relative Bewertung. In antiken und mittelalterlichen Münzsystemen entsprach es meist 12 bis 16 Unzen Silber pro Unze Gold. Während des Bimetallismus des 19. Jahrhunderts lag es gesetzlich bei 15 bis 16:1. Seitdem die Edelmetalle frei gehandelt werden, schwankt das Verhältnis stark: Im Durchschnitt der letzten 50 Jahre lag es bei rund 55:1, in Extremen bei 16 (1980) und über 120 (2020, während der Pandemie).
Heute, im Herbst 2025, steht Gold bei rund 4.000 US-Dollar und Silber bei fast 50 US-Dollar – ein Verhältnis von 80:1. Damit liegt die Ratio weit über dem historischen Mittel und signalisiert, dass Silber im Vergleich zu Gold weiterhin unterbewertet ist. Statistisch betrachtet befinden wir uns damit in einer Phase, in der Silber historisch oft erst am Anfang seiner Outperformance stand.
Die Erfahrung zeigt, dass in den ersten Jahren eines Edelmetall-Bullenmarktes Gold anzieht – als Krisen- und Inflationsschutz. Erst in der zweiten Hälfte des Zyklus übernehmen dann die spekulativeren Komponenten: Goldminen, später Silber, schließlich Silberminen. Fällt die Ratio unter 60, beginnt meist die Phase, in der Silber Gold deutlich überflügelt.
Real betrachtet: Silber bleibt günstig
Ein Blick auf die Kaufkraft relativiert die Rekordpreise. Inflationsbereinigt lag das Hoch von 1980, als Silber rund 50 US-Dollar kostete, bei heutigen knapp 200 US-Dollar. Das Hoch von 2011, ebenfalls um die 50 US-Dollar, entspräche heute etwa 70 US-Dollar. Der aktuelle Preis von 50 US-Dollar ist also real deutlich niedriger als frühere Spitzen. Trotz nomineller Allzeithochs ist Silber in realer Kaufkraft noch weit von historischen Übertreibungen entfernt – ein klarer Hinweis, dass der Markt eher in einer Neubewertungsphase steht als in einer Blase.
Makroökonomisch fügt sich das Bild nahtlos ein: hohe Schulden, fallende Realzinsen, expansive Fiskalpolitik und ein schwächeres Vertrauen in Papierwährungen schaffen jenes Umfeld, in dem Edelmetalle traditionell florieren. Gold profitiert als monetärer Anker, Silber als zyklischer Hebel auf denselben Megatrend.
Fundamentale Bewertung: Der kleine Markt mit großer Bedeutung
Rein fundamental wirkt Silber weiterhin attraktiv. Die weltweite Jahresförderung beträgt laut World Silver Survey 2025 etwa 835 Millionen Unzen. Multipliziert mit dem heutigen Preis errechnet sich ein Marktwert von rund 42 Milliarden US-Dollar – so viel wie ein einziger großer Technologiekonzern an einem schwachen Handelstag verliert. Zum Vergleich: Die jährliche Goldförderung liegt bei etwa 115 Millionen Unzen im Wert von über 460 Milliarden US-Dollar.
Damit ist der Silbermarkt winzig – und daher anfällig für Kapitalströme. Schon geringe Zuflüsse aus Anleihe- oder Aktienmärkten können den Preis spürbar bewegen. Hinzu kommt: Etwa 70 Prozent der Silberförderung stammen aus Beiproduktion in Zink-, Blei-, Kupfer- oder Goldminen. Das Angebot reagiert also kaum auf steigende Preise – die klassische Angebotselastizität ist praktisch nicht vorhanden. Gleichzeitig steigt die industrielle Nachfrage stetig: Photovoltaik, Elektronik, E-Mobilität und Medizintechnik verbrauchen Silber, das größtenteils nicht recycelbar ist.
Knappheit zeigt sich bereits aktuell in dramatischer Weise
Noch puffern Lagerbestände bei LBMA und COMEX die Knappheit, die durch das strukturelle Defizit seit 2021 entstanden ist, doch sie schrumpfen Jahr für Jahr. Sobald diese Puffer nicht mehr reichen, wird sichtbar, dass die Preisbildung weniger von Spekulation, sondern von Physik bestimmt wird – von Verfügbarkeit.
Diese knappe Verfügbarkeit zeigte sich bereits in den letzten Wochen ganz konkret und war an mehreren Stellen sichtbar. So mussten Händler und Bullionbanken kurzfristig auf Luftfracht zurückgreifen, um physisches Silber nach Europa zu bringen – ein Vorgang, der sich normalerweise aufgrund der Transportkosten schlicht nicht rechnet. Wie Reuters Mitte Oktober berichtete, wurde Silber erstmals seit Jahren wieder per Flugzeug aus den USA und Asien nach London geflogen, um die dortige Marktenge zu lindern.
Parallel dazu stiegen die Leihgebühren („Lease Rates“) für physisch sofort verfügbares Silber sprunghaft an. Während diese Sätze in ruhigen Zeiten meist bei 0,3 bis 0,7 Prozent pro Jahr liegen, kletterten sie laut Reuters im Oktober zeitweise auf über 10 Prozent, in einzelnen Transaktionen sogar auf 20 bis 30 Prozent. Solche Werte sind ein klarer Stressindikator. Sie zeigen, dass Marktteilnehmer bereit sind, außergewöhnlich viel zu bezahlen, um kurzfristig an echtes Metall zu kommen – ein Signal, dass die physische Knappheit längst keine theoretische Größe mehr ist.
Für Anleger ist das mehr als nur ein logistisches Detail. Steigende Leihgebühren und Lufttransporte sind Signale, die typischerweise in den Endphasen eines Lagerabbaus auftreten – also dann, wenn kurzfristig kein freies Metall mehr verfügbar ist. In solchen Phasen wird sichtbar, dass die Papierpreise an den Terminbörsen und die physische Verfügbarkeit zunehmend auseinanderlaufen. Der Markt beginnt, Engpässe einzupreisen – nicht in Form hektischer Spekulation, sondern über anhaltend höhere Prämien für physisches Material. Für Investoren, die Silber strategisch halten, ist das ein Hinweis darauf, dass sich der Markt in eine neue Gleichgewichtsphase bewegt: weg vom Überfluss vergangener Jahre, hin zu einem Umfeld, in dem reales Metall und nicht bloß Kontrakte den Ton angeben.
Ratio-Kompression: Was das für Anleger bedeutet
Aber wo könnte Silber preislich hinlaufen? Historisch betrachtet halbiert sich das Gold-Silber-Ratio in ausgereiften Edelmetallzyklen häufig. Bliebe Gold bei 4.000 US-Dollar und die Ratio fiele auf 60:1, entspräche das einem Silberpreis von etwa 67 US-Dollar. Bei einer Ratio von 50:1 wären es 80 US-Dollar, bei 40:1 sogar 100 US-Dollar. Solche Bewegungen sind auch vor dem Hintergrund der dargestellten Situation am Silbermarkt keineswegs unrealistisch – sie spiegeln das typische Muster wider, sobald Silber im Zyklus die Führungsrolle übernimmt.
Für Anleger bedeutet das, dass Silber trotz starker Kursentwicklung bewertungsseitig günstig ist. Es ist kein spekulatives Hoch, sondern eine Phase beginnender Ratio-Kompression – ein Prozess, der in früheren Zyklen Jahre dauerte und sich prozentual stark auswirkte. Entscheidend ist, die Relation zu verstehen: Gold markiert Stabilität, Silber symbolisiert Dynamik. Wer die Balance beider Metalle für aussagefähig hält, kann das Ratio als strategisches Steuerinstrument nutzen.
Ausblick: Wer verdient am Defizit?
Silber ist also weder teuer noch überhitzt – es befindet sich wahrscheinlich in einem Neubewertungsprozess, getragen von Makro- und Fundamentalfaktoren. Die sich anschließende Frage lautet: Wer profitiert davon?
Im nächsten Artikel dieser Serie geht es daher um die Silberminen – jene Unternehmen, die direkt vom strukturellen Defizit und steigenden Preisen leben. Wir beleuchten, welche Produzenten den größten Hebel besitzen und warum nicht jede Mine, die glänzt, auch glänzende Renditen liefert.
Zum Autor: Tim Bröning ist Diplom-Ökonom und Betriebswirt und bereits seit über 30 Jahren an der Börse und im Finanzmarkt aktiv. Er arbeitete viele Jahre bei der Siemens AG sowohl im Energiebereich als auch für den Zentralvorstand in der Strategie- sowie M&A-Abteilung, wo er sich früh mit Marktanalysen, strategischer Ausrichtung und Unternehmensbewertung beschäftigte. Die letzten 15 Jahre war er ausschließlich in hohen Führungspositionen im Finanzdienstleistermarkt tätig, wo er sich u.a. auf makroökonomische Fragestellungen, die Fondsanalyse und Fondsauswahl fokussierte. Einer besonderer Fokus gilt seit Jahren dem Rohstoffmarkt. Tim Bröning ist heute selbständig. Mehr unter www.broening-investment.de.
Hier geht es zu Teil 1 der TiAM-Serie zu Silber: „Silber auf Rekordkurs: Anpfiff zur zweiten Halbzeit“