Expertenanalyse: „2023 wird ein Anleihe-Jahr“

Jede Woche veröffentlichen führende Vermögensverwalter und Fondsgesellschaften weltweit zahlreiche fundierte Einschätzungen zu den Finanz- und Kapitalmarktmärkten. Um einen Überblick zu erhalten, fasst TiAM FundResearch regelmäßig die wichtigsten Aussagen für Sie kompakt zusammen.

25.11.2022 | 12:30 Uhr von «Peter Gewalt»

Diese Woche haben Volkswirte und Kapitalmarktexperten die konjunkturelle Entwicklung und Anlagemöglichkeiten im kommenden Jahr analysiert. Dabei wurden insbesondere die Chancen auf dem Anleihemarkt hervorgehoben.

So meint BANTLEON Chefvolkswirt Dr. Daniel Hartmann:
„Tatsächlich dürfte die Weltwirtschaft in eine Rezession schlittern – und die USA sollten sich dabei als treibende Kraft erweisen«, Deshalb werden die Aktienmärkte im Jahr 2023 massiv unter Druck geraten, während Top-Staatsanleihen ein Comeback feiern."
Und weiter: „Die Inflation befindet sich zwar übergeordnet weltweit in einem Aufwärtstrend – denn zahlreiche strukturelle Faktoren wie Fachkräftemangel, Deglobalisierung und Dekarbonisierung werden auch in den nächsten Jahren für Teuerungsdruck sorgen. Aber 2023 werden die zyklischen, disinflationären Kräfte überwiegen. Das kommende Jahr wird daher – im Gegensatz zu 2022 – von fallenden Inflationsraten geprägt sein. Dies liegt an den Basiseffekten bei den Energiepreisen und an den die Nachfrage dämpfenden Effekten der Rezession. Deshalb dürfte die Teuerungsrate der Eurozone und die der USA Ende 2023 wieder in Richtung 2,0 Prozent zurückfallen.“ […]
„Für die Finanzmärkte ist die Konsequenz dieses Szenarios eine Flucht aus Risikoassets in die sicheren Häfen. Viele Marktteilnehmer rechnen hingegen damit, dass das Schlimmste für Risikoassets bald überstanden sein wird: Leitzinserhöhungen, konjunkturelle Abkühlung, Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg. Dies dürfte sich jedoch als fataler Irrtum erweisen. So wird der Zinsschock der Notenbanken konjunkturell wohl erst im 2. Halbjahr 2023 voll zum Tragen kommen. Erst dann werden auch die Aktienmärkte ihren Tiefpunkt durchschritten haben. Unsere Konjunkturprognose legt 2023 einen Rückgang der Unternehmensgewinne in den USA und Europa von 10 Prozent bis 20 Prozent nahe. Viele Analysten unterstellen dagegen immer noch ein positives Gewinnwachstum. Hier besteht somit erheblicher Korrekturbedarf. Alles in allem besteht an den globalen Aktienmärkten – ausgehend vom aktuellen Kursniveau – ein Rückschlagpotenzial von mindestens 25Prozent. Der DAX sollte daher bis Ende 2023 in Richtung 10.000 Punkte, der SMI in Richtung 8.200 Punkte und der S&P500 in Richtung 3.000 Punkte fallen.
Deutlich besser sind die Aussichten für Top-Staatsanleihen, weil der Leitzinshochpunkt der Notenbanken in greifbare Nähe gerückt ist: Spätestens Anfang 2023 sollte klar sein, dass die Weltwirtschaft in eine Rezession rutscht. Gleichzeitig sollte der Abwärtstrend bei der Inflation sichtbar werden. Deshalb dürften die Notenbanken den Straffungszyklus Ende 2022 auslaufen lassen. Der Leitzins der EZB wird dann bei 2,00 Prozent (Depositenrate), derjenige der Fed bei 4,50 Prozent (Obergrenze) liegen. Im Vergleich zu dieser Prognose sind an den Terminmärkten zu hohe Leitzinsen eingepreist, zumal die Fed ab Mitte 2023 die Leitzinsen schon wieder senken sollte. Entsprechend sind in den nächsten Monaten Auspreisungen von Leitzinserhöhungen wahrscheinlich. In diesem Zuge dürften die Renditen von Staatsanleihen kräftig fallen. Die Renditen 10-jähriger deutscher Bundesanleihen sehen wir entsprechend Ende 2023 bei 1,00 Prozent, 10-jährige Schweizer Eidgenossen dürften dann bei 0,50 Prozent rentieren und 10‑jährige US-Treasuries bei 2,50 Prozent.
Für inflationsgeschützte Staatsanleihen (Linker) und Rohstoffe, die beide bis ins Frühjahr 2022 hinein zu den Gewinnern an den Finanzmärkten zählten, gilt diese erfreuliche Prognose nicht. Unter der sich abzeichnenden Rezession werden sowohl die Inflationserwartungen als auch die Rohstoffpreise leiden. Anleger sollten sich daher aus beiden Assetklassen temporär zurückziehen.
Dies gilt auch für bonitätsschwache Unternehmensanleihen (High-Yields), die von den in einer Rezession unvermeidlichen Kreditausfällen und Rating-Herabstufungen belastet werden dürften. Die Risikoprämien von europäischen High-Yields werden sich daher im Laufe des Jahres 2023 erheblich ausweiten. Bei Investment-Grade-Unternehmensanleihen dürfte es ebenfalls zu steigenden Risikoprämien kommen. Diese sollten jedoch moderat ausfallen, solange unser Risikoszenario einer sehr schweren Rezession nicht eintritt. Bleibt dieses aus, dürften mit EUR-Unternehmensanleihen der Bonität Investment Grade – nicht zuletzt wegen der mittlerweile hohen Renditen von durchschnittlich 4,00 Prozent – zumindest positive Erträge erzielt werden können.
Der US-Dollar hat gegenüber dem Euro im Jahr 2023 leichtes Abwertungspotenzial. Nachteilig für den Greenback dürften sich Spekulationen über Leitzinssenkungen erweisen. Gleichzeitig wird der US-Dollar jedoch weiterhin vom unsicheren globalen Umfeld gestützt.
Fazit:2023 wird ein klassisches Risk-off-Jahr. Das zentrale Thema wird die weltweite Rezession sein. Darunter dürften alle Risikoassets leiden. Top-Staatsanleihen sollten dagegen ein Comeback feiern. Investoren winken in diesem Segment hohe Kursgewinne und erstmals seit langem wieder Zinserträge.“


Chris Iggo, CIO Core Investments, AXA Investment Managers meint ebenfalls: 2023 wird ein Anleihe-Jahr:
- Die Federal Reserve (Fed) wird in den USA die Zinssätze 2022 so oft angehoben haben wie fast nie zuvor.
- Deshalb ist der Ausblick für Anleihen positiv, deren Renditen so hoch sind wie seit 15 Jahren nicht mehr. Anleger können höhere Renditen bei geringerem Risiko erzielen, als dies in den vergangenen Jahren der Fall war.
- Es ist höchst unwahrscheinlich, dass die Anleihemärkte ein drittes Jahr in Folge negative Renditen bringen werden.
-Trotz aller Bedenken hinsichtlich Marktliquidität, Reduzierung der Notenbankbilanzen oder möglicher Zahlungsausfälle und Herabstufungen wird 2023 ein gutes Jahr für Anleihen werden.
„All dies stimmt uns für festverzinsliche Wertpapiere optimistisch. Die Zinsen in den USA stehen kurz vor dem Höchststand und der Anstieg der Anleiherenditen in vielen Märkten bedeutet, dass das Risiko-Rendite-Verhältnis bei Anleihen künftig viel besser ist. Auf Indexebene sind die Renditen pro Einheit Duration und Bonitätsrisiko so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Höhere Renditen bedeuten niedrigere Anleihekurse. Und selbst wenn die Renditen nicht fallen, werden die Anleihebesitzer von einem starken „Pull-to-Par“-Effekt profitieren, wenn sich die Kurse über die restliche Laufzeit ihrem Nennwert von 100 Prozent annähern. Anleger sollten sich jedoch nicht auf Kapitalgewinne am Anleihemarkt verlassen. Im Gegensatz zu den Jahren, in denen quantitative Lockerungen (quantitative easing, QE) die Renditen nach unten und die Kurse nach oben getrieben hat, werden die Erträge in Zukunft eher aus den Kupons kommen. Das sollte man bei der Zusammenstellung von Portfolios im Hinterkopf behalten – Anleihen können in Kombination mit soliden dividendenstarken Aktien einen effektiveren Beitrag zu gemanagten Income-Strategien leisten.
Die meisten Strategen sind der Meinung, dass die Aktienmärkte deutlich günstiger werden sollten. Die Geschäftsmodelle werden durch den Druck auf die Umsätze und Gewinnmargen in Frage gestellt. Es ist nicht klar, welches künftige Ertragsniveau genommen werden sollte, um Aktien heute zu bewerten, insbesondere solche, die in den vergangenen Jahren aufgrund der gestiegenen Ausgaben für Technologie und Kommunikation ein stetiges Wachstum verzeichnet haben. Die Konsumtechnologie, sowohl Hardware als auch Software, könnte noch eine Weile zu kämpfen haben, da die Haushalte ihre Ausgaben kürzen. Auch die Investitionsausgaben der Firmen werden wahrscheinlich schwächer ausfallen. Die großen Steigerungen bei den Investitionen sollten durch die Erfordernisse der Energiewende und die fortgesetzte Automatisierung und Digitalisierung angetrieben werden – aber die Rezession wird dies bremsen.“


Die höchsten Inflationsraten seit vier Jahrzehnten, ein abrupter Zinsanstieg, Verwerfungen an den Energiemärkten und akute geopolitische Risiken prägen das Jahr 2022. Damit haben sich die Rahmenbedingungen für Unternehmen und Investoren in kürzester Zeit massiv verändert. „Viele Marktteilnehmer erleben das Ende alter Gewissheiten. Das hochkomplexe Umfeld lässt vorerst nur eingeschränkte Prognosen zu. Ausgehend von ermäßigten Bewertungsniveaus sind 2023 aber spürbare Erholungen an den Aktienmärkten möglich“, fasst Dr. Heinz-Werner Rapp, Vorstand und Chief Investment Officer der FERI Gruppe, den Jahresausblick 2023 für Konjunktur und Kapitalmärkte zusammen.
Der wichtigste Faktor für die Kapitalmärkte sei 2023 ein Abflauen der hohen Inflationsdynamik. Sowohl statistische Basiseffekte als auch die globale Konjunkturschwäche bewirkten einen Rückgang der Inflation, was eine Dämpfung des bisherigen Zinsanstiegs zulasse. Dennoch verharre die Inflation im Durchschnitt des Jahres 2023 mit mehr als 4 Prozent in den USA und mit über 7 Prozent im Euroraum auf hohem Niveau. Mittel- und langfristig sei damit zu rechnen, dass strukturelle Faktoren wie der demografisch bedingte Arbeitskräftemangel sowie steigende Kosten der ökologischen Transformation in Richtung generell höherer Inflation wirkten. „Das lange vorherrschende Bild niedriger Inflation und moderater Zinsen ist auf absehbare Zeit beendet. Dies hat spürbare Implikationen für alle Anlageklassen und deren zukünftige Renditeprofile“, erklärt Rapp.
Die Aktienmärkte hätten bereits 2022 verschlechterte Fundamentaldaten eingepreist und würden nun von tieferen Bewertungsniveaus ins Anlagejahr 2023 starten. Das Abwärtspotential von Aktien sei somit relativ begrenzt. Trotz eines Rückgangs der Unternehmensgewinne könnten Aktien im nächsten Jahr freundlicher tendieren oder sogar positiv überraschen. Wichtig sei dafür aber Unterstützung von den Rentenmärkten, die sich 2023 spürbar stabilisieren oder sogar leicht erholen sollten. Zentraler Unsicherheitsfaktor bleibe vorläufig noch die Geldpolitik, speziell in den USA. Enttäuschung drohe, falls Inflationsraten und -erwartungen langsamer sinken als angenommen. „Insgesamt dürfte das Anlagejahr 2023 von sehr wechselhaften Marktverläufen und möglichen Überraschungen in beide Richtungen geprägt sein. Ein aktives Portfolio Management, das flexibel auf marktspezifische Chancen und Risiken reagiert, ist somit unerlässlich“, sagt FERI-Vorstand Rapp.


Prof. Dr. Jan Viebig, Chief Investment Officer der ODDO BHF SE erläutert, welche Entwicklungen er für das kommende Jahr erwartet und wie ODDO BHF aktuell positioniert ist:
„Wir erwarten aufgrund der hohen Inflationsraten weitere Zinserhöhungen in den USA und in Europa. In den USA ist die Geldpolitik nach den letzten Leitzinserhöhungen bereits restriktiv. In der Eurozone ist die Geldpolitik hingegen weiterhin zu expansiv, da die Leitzinsen noch nicht deutlich über den nominalen „neutralen Zinssatz“ in der Eurozone angehoben wurden.
… Da die Zinsen vermutlich weiter angehoben werden, bevorzugen wir auf der Rentenseite weiterhin eine kurze Duration. Die Zeit, die Laufzeiten in den Anleiheportfolios zu verlängern, um von Kurssteigerungen bei wieder fallenden Zinsen zu profitieren, ist aus unserer Sicht noch nicht gekommen. Eine selektive Erhöhung des Kreditrisikos im Investment-Grade-Bereich scheint dagegen bald opportun.
Aktien in Europa und den Schwellenländern
werden derzeit wieder nahe ihren langfristigen Durchschnittsniveaus gehandelt, wenn man Kurs- / Buchverhältnisse und andere Bewertungskennzahlen betrachtet. US-Aktien hingegen notieren trotz der Kursrückgänge weiterhin oberhalb ihrer durchschnittlichen, historischen Bewertungsniveaus. Die höhere Bewertung von US-Aktien, der starke US-Dollar und fallende Gewinnmargen in den USA sprechen derzeit eher für Aktien in der Eurozone als für Aktien in den USA. Eine weitere Erhöhung der Aktienquote halten wir aktuell noch für verfrüht. In der Vergangenheit hat es sich ausgezahlt, die Aktienquote erst einigeMonate vor dem Ende einer Rezession deutlich anzuheben. Wir erwarten derzeit eine Rezession mit einer Wahrscheinlichkeit von 85 Prozent in der Eurozone und mit 60 Prozent in den USA. Wir gehen weiterhin davon aus, dass die Rezession in der Eurozone und in Deutschland im nächsten Jahr mild ausfallen wird.“


Kyle Kloc, Senior Portfolio Manager bei Fisch Asset Management, äußert sich zum Markt der europäischen Hochzinsanleihen:
„Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden die Konjunkturdaten mit einer gewissen Verzögerung zeigen, dass sich Europa aktuell bereits in einer Rezession befindet. Anleger erreicht diese Information nach einem bisher für sie ausgesprochen schlechten Jahr. Doch für Anleiheinvestoren muss dies nicht zwingend so negativ sein, wie es zunächst scheint. Das gilt sogar für das konjunktursensible High-Yield-Segment. Denn nach dem Rückgang der Anleihekurse seit Jahresbeginn bietet sich dadurch eine ungewöhnlich attraktive Gelegenheit.

Was den Anlagezeitpunkt angeht, könnten die Spreads nach unserer Einschätzung durchaus noch etwas weiter ansteigen. Es ist jedoch sinnvoll, sich schon jetzt mit dem High-Yield-Segment zu beschäftigen und darauf vorzubereiten, zum richtigen Zeitpunkt zu investieren. In den nächsten zwölf Monaten sollte die Anlageklasse Anlegern solide Renditen bieten, auch wenn die Entwicklung nicht linear verlaufen dürfte. Angesichts niedriger Anleihepreise ergeben sich attraktive Einstiegschancen für neue Anleger. Und auch wenn die niedrigen Kurse für Anleger mit bestehenden Positionen schmerzhaft sind, stellen sie eine Gelegenheit zur Aufstockung von Positionen dar, da sie den möglichen Verlust bei einem Zahlungsausfall begrenzen. Kurse im Bereich von 75 bis 85 Prozent weisen bereits einen erheblichen Rückgang aus und liegen sehr viel näher an den möglichen Verwertungserlösen als vor einem Jahr. Dieser Puffer entschädigt Anleger in ähnlicher Weise für die zusätzlichen Risiken wie dies bei höheren Spreads der Fall wäre. Spreads in Höhe von 700 Bp., die damit etwas über den aktuellen Niveaus lägen, würden aus unserer Sicht daher eine angemessene Risikoprämie darstellen. Üblicherweise steigen die Spreads in einem rezessiven Umfeld auf etwa 800 Bp..
Wir erwarten jedoch nicht, dass die Ausfallquoten normale Rezessionsniveaus erreichen werden. Denn der Anteil der Emittenten mit geringer Qualität im Index ist niedriger als in früheren Phasen. Und die Emittenten verfügen zu Beginn dieses Abschwungs über bessere Fundamentaldaten, eine solide Liquidität und haben wenig Probleme bei der Einhaltung von Kreditvereinbarungen (Covenants). Wichtig ist auch, dass die Spreads ihren Höchststand in der Regel lange vor dem Ende einer Rezession erreichen. Um in der Nähe des Höchststands der Spreads zu investieren, müssen Anleger in den Markt einsteigen, bevor der nächste Aufschwung beginnt. Dabei sollten sie sich an das bekannte Sprichwort erinnern, dass es kurz vor Tagesanbruch immer am dunkelsten ist. Darüber hinaus sollten aktive Manager volatile Zeiten wie diese begrüßen, da sie in der Regel reichlich Gelegenheit zur Generierung von Alpha bieten.“

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