Metzler AM: Economic Research - Wochenausblick KW 34
Ist das Geldsystem der EZB an seine Grenzen gestoßen? Wahrscheinlich kann die EZB den Einlagesatz nicht über die von den Finanzmarktakteuren erwarteten -0,7 % hinaus senken, ohne das Bankensystem zu gefährden.16.08.2019 | 15:40 Uhr
Laut Edgar Walk, Chefvolkswirt Metzler Asset Management, könne allerdings ein umfassender fiskalischer Stimulus das Geldsystem retten, da eine Erholung des Wirtschaftswachstums wieder höhere Anleiherenditen ermögliche. Zudem konstatiert Walk, dass die EU durchaus eine Mitschuld am Brexit trägt – die Kritik einiger britischer Politiker an ausufernder Bürokratie und mangelndem Reformwillen in der EU sei nicht von der Hand zu weisen.
Metzler: Das Geldsystem hat seine Grenzen erreicht
Die
Finanzmarktakteure erwarten laut Forward-Kurve, dass die EZB in
Reaktion auf die schwachen Konjunkturdaten den Einlagesatz reduziert –
von derzeit -0,4 % bis auf -0,7 %. Sie würde damit die
Profitabilitätsprobleme der europäischen Banken allerdings noch
verschärfen, da die Banken gegenwärtig auf den größten Teil der Guthaben
ihrer Kunden keine negativen Zinsen erheben können, ihre eigene
Liquidität jedoch zu Negativzinsen bei der EZB anlegen müssen.
Wahrscheinlich könnte die EZB daher den Einlagesatz nicht über -0,7 %
hinaus weiter senken, ohne das europäische Bankensystem in Gefahr zu
bringen. Eine Staffelung der Einlagezinsen der Geschäftsbanken bei der
EZB würde zwar etwas Erleichterung bringen, das grundsätzliche
(Profitabilitäts-) Problem aber nicht lösen. Daher könnte das aktuelle
Geldsystem nun an seine Grenzen gestoßen sein.
Nur
ein umfangreicher fiskalischer Stimulus in der Eurozone könnte das
jetzige System erhalten: Eine Wachstumserholung würde wieder höhere
Renditen von Anleihen ermöglichen, sodass die Geschäftsbanken wieder
mehr Anlagen mit einer positiven Verzinsung in der Eurozone finden
könnten. Insbesondere Deutschland steht hierbei in der Verantwortung und
sollte jetzt staatliche Mehrausgaben für Bildung, Infrastruktur sowie
Forschung & Entwicklung planen. Je länger Deutschland wartet, desto
größer die Wahrscheinlichkeit, dass unter massivem internationalen Druck
hektisch sinnlose Ausgabenprogramme auf den Weg gebracht werden müssen.
Idealerweise würde Deutschland die Initiative zu einer umfangreichen
Deregulierungswelle in Europa ergreifen, um den Anreiz für Investitionen
zu erhöhen (siehe folgenden Text zum Brexit). Die
Einkaufsmanagerindizes (Donnerstag) werden zeigen, wie stark der
Wachstumsschaden in der Eurozone schon jetzt ist.
Bleibt
ein umfangreicher fiskalischer Stimulus in der Eurozone aus, müsste das
Geldsystem so reformiert werden, dass die Geschäftsbanken negative
Zinsen auf alle Kundenguthaben erheben können. Dazu müsste die
Verfügbarkeit von Bargeld stark eingeschränkt werden. Der Leitzins in
der Eurozone könnte dann unbegrenzt fallen.
Ein
größerer Schritt wäre ein Systemwechsel zu Vollgeld: Die Staatsschulden
sänken merklich, die Geldproduktion verstetigte sich und das neue Geld
käme via Staatsausgaben oder Steuersenkungen in der Realwirtschaft an.
Die Abhängigkeit vom monetären Transmissionsmechanismus wäre nicht mehr
gegeben, und der Zins könnte sich ohne Eingriff einer Zentralbank frei
am Kapitalmarkt bilden. Die EZB könnte das Vollgeld auch als digitale
Währung ausgeben.
Interessanterweise
scheint China zwar nicht den Weg zum Vollgeld zu gehen, aber eine
staatliche digitale Währung einführen zu wollen. Dieser Schritt wird
anscheinend schon seit 2014 vorbereitet. Bisher sind die Informationen
noch spärlich: Die digitale Währung soll nicht auf dem
Blockchain-Verfahren beruhen, da es nicht genügend Transaktionen
ermöglicht. Auch sollen sowohl die Geschäftsbanken als auch die
Zentralbank die digitale Währung schöpfen können.
Brexit: EU trägt Mitschuld
Im
Jahr 2012 veröffentlichten fünf Politiker der britischen Konservativen
ein Buch mit dem Titel „Britannia Unchained“. Darin argumentieren sie
für eine Politik der Deregulierung und Befreiung der Marktkräfte. Das
Buch empfahl Australien, Kanada und asiatische Tigerstaaten wie Singapur
als Vorbild für bestimmte Reformen. Vier der Politiker sitzen heute im
Kabinett der Regierung Boris Johnson. Aus ihrer Sicht ist die EU
zweifellos zu einem Bürokratiemonster verkommen. Die europäische
Datenschutz- oder die europäische Verpackungsordnung sind nur zwei
jüngste Beispiele dafür. Ein weiteres Beispiel zeigt, dass China
europäische Unternehmen beim Bau der Seidenstraße abhängt (Handelsblatt
online vom 15.8.2019):
„Die
EU investiere in den möglichen Beitrittsländern auf dem Balkan zwar
deutlich mehr Geld als China, so Thomas Eder vom Mercator Institute for
China Studies (Merics). Aber in der öffentlichen Wahrnehmung dort
dominiere China mit seinen Angeboten. Pekings Unternehmen kämen auch
deshalb zum Zuge, weil die EU bei den von ihr vorgeschlagenen Projekten
zu langsam und bürokratisch sei: ‚Die Ausschreibungsvorgaben sind
vielfach zu kompliziert und die Umweltprüfungen zu langwierig, als dass
die dortigen Regierungen sie mit ihren Wahlzyklen vereinbaren könnten‘,
konstatiert der Experte.“
Europäische
Unternehmen scheinen also immer mehr Zeit zur unproduktiven Erfüllung
regulatorischer Vorgaben aufwenden zu müssen und immer weniger Zeit für
ihre produktive Kernkompetenz zu haben. Die Sorge der Briten ist daher
verständlich, dass die EU zunehmend jegliche Wirtschaftsdynamik mit
ihrer ausufernden Bürokratie zum Erliegen bringt. Besser wäre eine
Einsicht in die eigenen Fehler innerhalb der EU und ein ausgeprägter
Reformwillen.
USA: Ungewöhnliche Zeiten
Normalerweise
befände sich eine US-Notenbank nicht in einem Leitzinssenkungszyklus,
wenn wie im Juli die Kerninflation auf 2,2 % steigt und die
Wachstumsrate der Einzelhandelsumsätze von nur 1,4 % im Dezember 2018
auf 3,4 % im Juli 2019 klettert. Die US-Notenbank dürfte jedoch mit
ihren voraussichtlichen Leitzinssenkungen im September und Oktober auf
die zu erwartende Verlangsamung der Konjunktur in den USA reagieren. So
sorgt der erneut eskalierte Handelskonflikt für eine hohe Unsicherheit
bei den Unternehmen, was eine große Investitionszurückhaltung in den USA
zur Folge haben könnte. Entsprechend fiel die Rendite 10-jähriger
US-Staatsanleihen seitdem merklich und lag kurzzeitig sogar unter dem
Renditeniveau zweijähriger US-Staatsanleihen. Seit dem Zweiten Weltkrieg
war gerade eine negative Renditedifferenz zwischen einer zehnjährigen
und einer zweijährigen US-Staatsanleihe der zuverlässigste Frühindikator
für eine Rezession. Die Rezessionsrisiken sind somit merklich gestiegen
und erfordern daher die erwarteten Leitzinssenkungen der US-Notenbank.
Was
würde jedoch passieren, wenn die allgemein erwartete Wachstumsabkühlung
nicht eintritt? In diesem Fall wäre der US-Anleihemarkt massiv
fehlgepreist. Die kommenden Konjunkturdaten – Einkaufsmanagerindizes
(Donnerstag) und Neubauverkäufe (Freitag) – werden zeigen, wie stark
US-Unternehmen und private Haushalte auf die hohe Unsicherheit reagieren
und wie stark die negativen Ansteckungseffekte der globalen
Wachstumsabkühlung auf die US-Wirtschaft sind.
Eine gute und erfolgreiche Woche wünscht
Edgar Walk
Chefvolkswirt Metzler Asset Management
Sie können sich den Metzler Asset Management-Wochenausblick KW 34 hier auch im PDF-Format downloaden.