Biotech: Marktbereinigung schafft neue Basis
Gastbeitrag von Dr. Christian Koch, Head BB Biotech bei Bellevue Asset Management.27.08.2025 | 06:45 Uhr
Der Biotech-Sektor blickt auf eine der härtesten Phasen seiner Geschichte zurück. Seit dem Höchststand im Jahr 2021 – damals befeuert durch pandemiebedingte Sonderkonjunktur – haben steigende Zinsen die Kapitalkosten verteuert und überzogene Erwartungen an Technologien wie mRNA oder Gen-Editing zu einer deutlichen Abkühlung geführt. Vor allem kleine und mittelgrosse Unternehmen litten unter Kursverlusten, die Kapitalaufnahme wurde spürbar schwieriger. In dieser Marktbereinigung sind zahlreiche Geschäftsmodelle verschwunden, gleichzeitig wird Kapital disziplinierter und gezielter eingesetzt. Damit ist ein Umfeld entstanden, in dem Qualität, solide Daten und differenzierte Ansätze wieder stärker zählen.
Bewertungen auf historisch tiefem Niveau
Die Bewertungssituation ist derzeit einer der bemerkenswertesten Aspekte im Biotech-Sektor. Viele Small Caps handeln nahe oder sogar unter ihrem Nettocashbestand – ein Niveau, das zuletzt in der Post-Dotcom-Ära erreicht wurde. Auch Mid Caps notieren deutlich unter dem langjährigen Durchschnitt. Biotech insgesamt bewegt sich auf einem 20- bis 30-Jahres-Tief.
Für Investoren bedeutet dies: Die Diskrepanz zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und Marktpreis ist so gross wie selten zuvor. Historisch betrachtet waren vergleichbare Konstellationen häufig Ausgangspunkte für langfristige Neubewertungen. Auch BB Biotech selbst wird mit einem Abschlag von rund 10 % auf den inneren Wert gehandelt.
Strategische Käufer sind aktiv
Ein Beleg für die strukturelle Stärke des Sektors ist die jüngste M&A-Welle. Strategische Käufer wie Johnson & Johnson, Sanofi und Merck & Co. haben in den vergangenen Monaten Milliardenbeträge in Biotech-Innovationen investiert. Die Übernahme von Intra-Cellular Therapies durch Johnson & Johnson (USD 14.6 Mrd.), das Gebot von Sanofi für Blueprint Medicines (bis zu USD 9.5 Mrd.) oder das Kaufangebot von Merck & Co. für Verona Pharma (USD 10 Mrd.) unterstreichen: Big Pharma ist bereit, substanzielle Prämien für differenzierte Technologien zu zahlen.
Innovation als wichtigster Kurstreiber
Das zweite Quartal hat eindrucksvoll gezeigt, wie stark wissenschaftliche Innovation weiterhin als Wachstumstreiber wirkt. Mehrere unserer Beteiligungen haben bedeutende regulatorische und klinische Meilensteine erreicht: Argenx erhielt die Zulassung für Vyvgart Hytrulo als subkutane Fertigspritze – ein wichtiger Schritt für eine vereinfachte Anwendung und höhere Patientenakzeptanz. Alnylam Pharmaceuticals sicherte sich die EU-Zulassung für Amvuttra bei ATTR-Kardiomyopathie und hat damit das Marktpotenzial weit über die ursprüngliche Indikation hinaus erweitert.
Auch bei klinischen Studien wurden Akzente gesetzt: Ionis Pharmaceuticals präsentierte überzeugende Phase-III-Daten für Donidalorsen zur Behandlung von hereditärem Angioödem und erwartet im weiteren Jahresverlauf wichtige Phase-III-Resultate für Olezarsen. Zudem meldete Vertex bei Typ-1-Diabetes vielversprechende Ergebnisse mit der Inselzelltherapie VX-880 – eine Innovation mit disruptivem Potenzial.
Regulatorische Unsicherheit bleibt ein Risiko
Neben Markt und Bewertung prägt auch das regulatorische Umfeld die Branche. In den USA wird derzeit intensiv über das Most-Favoured-Nation-Preismodell diskutiert, das Medikamentenpreise an die niedrigsten internationalen Vergleichspreise koppeln würde. Da rund 80% der weltweiten Pharma-Gewinne in den USA erwirtschaftet werden, hätte ein solcher Schritt enorme Auswirkungen: Preisdruck im wichtigsten Markt der Welt, die Gefahr eingeschränkter Medikamenteneinführungen in Europa und ein Balanceakt zwischen globaler Margensicherung und fairem Zugang zu Innovation.
Meine Einschätzung: Ich erwarte keine Entwicklung, die den Marktzugang grundsätzlich infrage stellt. Für den kommerziellen, nicht von Medicare oder Medicaid regulierten Markt garantiert die US-Verfassung de facto freie Preisgestaltung. Unternehmen könnten im Minimalfall neue Medikamente ausschliesslich dort lancieren und ihre Margen sichern. Neurocrine ist ein Beispiel: Mit einem fast ausschliesslich in den USA vertriebenen Medikament erzielt das Unternehmen rund drei Milliarden US-Dollar Umsatz – trotz regulatorischer Unsicherheiten. Dieses Modell zeigt, dass sich auch in einem verschärften Umfeld attraktive Geschäftsstrategien realisieren lassen. Für Investoren bedeutet das: Politische Eingriffe sind ein Risiko, doch sie ändern wenig an der strukturellen Innovationskraft der Branche.
Ausblick: Pipeline als Taktgeber im zweiten Halbjahr
Im zweiten Halbjahr erwarten wir zahlreiche Impulse – sowohl durch potenzielle Marktzulassungen als auch durch klinische Studien mit richtungsweisender Bedeutung. Vier zentrale Zulassungsentscheidungen stehen noch dieses Jahr an: Scholar Rock rechnet mit der Freigabe für Apitegromab zur Behandlung der spinalen Muskelatrophie, Ionis steht mit Donidalorsen vor der Zulassung bei hereditärem Angioödem, Agios arbeitet auf die Zulassung von Mitapivat bei Thalassämie hin, und Biohaven verfolgt mit Troriluzol einen neuartigen Ansatz gegen spinozerebelläre Ataxien. Darüber hinaus erwarten wir wichtige Studiendaten – unter anderem zu Olezarsen (Ionis), zum CMV-Impfstoff mRNA-1647 (Moderna) und zur PI3Kα-Innovation RLY-2608 von Relay Therapeutics.
Die Erfolge unserer Portfolio Unternehmen im laufenden Jahr sind mehr als nur Einzelereignisse – sie unterstreichen, dass wissenschaftlicher Fortschritt auch 2025 der zentrale Werttreiber für den Biotech-Sektor bleibt und gezielte Selektion belohnt wird. Das zweite Halbjahr 2025 dürfte von entscheidenden Fortschritten geprägt sein – und bestimmen, welche Unternehmen den Sprung von der Entwicklung in die Kommerzialisierung schaffen.
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