Analystensentiment: Überdruckventil geöffnet

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine, Unsicherheiten über die weitere Entwicklung der Corona-Pandemie und rasante Preissteigerungen in vielen Ländern haben im ersten Quartal die Hoffnungen auf einen starken weltwirtschaftlichen Aufschwung in 2022 gedämpft.

15.06.2022 | 12:10 Uhr

Im zweiten Quartal haben die Profis an den Finanzmärkten nun begonnen, ihre Erwartungen und Strategien neu auszurichten. Das Sentiment hat sich dabei für viele Länder und zahlreiche Branchen verschlechtert – aber nicht für alle. Das zeigt die Analyse der Finanzexperten-Zitate in Wall Street Journal, Financial Times und Handelsblatt von Media Tenor International (Zürich).

Die Stimmung bezüglich Chinas, der USA und auch der weltwirtschaftlichen Entwicklung hat sich im Q2 verschlechtert. Angesichts der anhaltenden Corona-Unsicherheit sinken nach den Experteneinschätzungen die Chancen, dass China einen kräftigen Wachstumsimpuls liefern kann, Medien berichten, dass ausländische Konzerne beginnen, ihre Lieferketten in Asien breiter aufzustellen. „Dennoch scheint der Absturz des Sentiment-Wertes von -19,8 (Q1) auf -52,7 (Q2) hoch“, so Matthias Vollbracht, Leiter Research bei Media Tenor. „Immerhin rechnet die Weltbank nach der jüngsten Prognose noch mit einem Wachstum von 4,3 Prozent für China in diesem Jahr.“[1] Für die USA hat sich das Analystensentiment von +2,6 (Q1) auf -12 (Q2) verschlechtert, für die Weltwirtschaft von +13,6 (Q1) auf -18,2 (Q2). Auch für die Eurozone hat sich das Sentiment zuletzt von -13,7 (Q1) auf -29,2 (Q2) verschlechtert. Netto-Positiv ist derzeit die Stimmung der Finanzanalysten u.a. noch für Brasilien (+36,4) und Spanien (+14,3). „Eine Analyse des Sentiments nach Zeitbezügen dokumentiert, dass sich Zukunfts- und Gegenwartseinschätzungen der Finanzexperten zurzeit im Gleichklang entwickeln. Das ist ein Kennzeichen hoher Unsicherheit“, so Vollbracht. Es kann weiter mit Überraschungen nach oben und unten gerechnet werden.

Quelle: Media Tenor International AG, 345.441 Aussagen von zitierten Analysten

Wie ist die Stimmung für einzelne Branchen? Hier ist das Bild deutlich differenzierter: Das Sentiment zur Autobranche hat sich von +1,3 (Q1) auf + 8 (Q2) verbessert, trotz der weiter bestehenden Probleme in der Lieferkette. Offenbar kommt die Fokussierung der Konzerne auf weniger, aber höherwertige Autos in der Produktion bei den Investoren an. Verbessert hat sich auch das Sentiment zur Nahrungsmittelbranche von +26,2 (Q1) auf +35,4 (Q2) und zu Rohstoffen von +26,7 (Q1) auf +57,8 (Q2). Erholt hat sich das Sentiment zu Versorgern, die im ersten Quartal (-14,7) unter Druck standen, nun aber wieder positiver (+3,6) eingeschätzt werden. Verlierer sind in den Einschätzung der Analysten der Bau- und Immobiliensektor, der Handel, Medientitel und zyklischer Konsum/Reise. „Das ist angesichts der Erwartung steigender Zinsen und Inflation erwartbar“, so Vollbracht. Markant ist der weitere Abwärtstrend im Sentiment der Technologietitel (von +23 im Q1 auf +1,5 in Q2).

Aktuell wird viel über die Volatilität am Markt für Krypto-Währungen geschrieben. Sind sie nun – wie Gold – ein „sicherer Hafen“ oder doch nur ein weiteres Risiko in der Anlagestrategie, welches schwer beherrschbar ist? Ein Blick in die Vergangenheit kann helfen, in die Phasen, in denen es starke Schwankungen im Sentiment und im Preis der Cyber-Währung Bitcoin gab. Hier fällt auf, dass der jüngste Kursrückgang im Q2 nicht von vergleichbar negativen Kommentierungen begleitet war, wie das in früheren Abschwungs Phasen der Fall war. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass sich zumindest der Bitcoin als Asset-Klasse etabliert hat. Ob sich dies bestätigt, bleibt abzuwarten.

Insgesamt wurden 345.441 Aussagen von zitierten Analysten ausgewertet. (pg)

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