Während in den vergangenen Wochen bei der Börsen-Achterbahn die Bullen das Ruder übernommen haben, schlagen in den letzten Tagen die Bären zurück. Es bleibt die Frage, was Investoren vom zweiten Halbjahr erwarten können und wo sich Chancen bieten.
15.06.2020 | 15:20 Uhr von «Christian Bayer»
Ewout van Schaick, Leiter des Multi-Asset-Bereichs beim Asset Manager NN
Investment Partners (NN IP), stellt fest, dass die meisten Investoren 2020
bereits abgeschrieben haben und sich kaum noch Gewinne erwarten. Aus seiner
Sicht ist der Konsens unter den Investoren eine V-förmige Erholung der
Wirtschaft. In diesem Fall würden die Firmengewinne bis Ende 2021 wieder das
Niveau von Ende 2019 erreichen. Zwar sei dieses Szenario nicht völlig
unrealistisch, allerdings müssten Anleger am Aktienmarkt Einbrüche
einkalkulieren. Dies gelte umso mehr, wenn die aktuelle Nachrichtenlage diese
positive Prognose nicht untermauert. Die zuletzt deutlich gestiegenen Kurse und
die damit hohe Bewertung trifft aus Sicht des Experten auf einen starken
Gewinnrückgang bei Unternehmen. Bei US-Konzernen rechnen Marktbeobachter im
zweiten Quartal mit einem Rückgang der Gewinne von mehr als 40 Prozent. „In
Europa könnte der Rückgang angesichts der höheren Konjunkturabhängigkeit und
des geringeren Technologieniveaus sogar noch schlimmer ausfallen und etliche
zyklische Sektoren dürften im Schnitt einen Verlust verzeichnen“, so der
Experte. Vor diesem Hintergrund hält van Schaick selbst mit Blick auf ein mögliches
Gewinnwachstums in diesem und im kommenden Jahr das Bewertungsbild für
ungünstig.
Aus Sicht des Chefstrategen des französischen Vermögensverwalters OFI Asset
Management, Jean-Marie Mercadal, unterscheidet sich die aktuelle Situation in
Folge der Corona-Pandemie deutlich von früheren Rezessionen. Mercadal
konstatiert, dass die Weltwirtschaft innerhalb weniger Wochen von einem
Wachstum von mehr als drei Prozent im laufenden Jahr nach Schätzungen des Internationalen
Währungsfonds (IWF) voraussichtlich auf ein Minus von drei Prozent zusteuert.
Den Unterschied der Corona-Rezession zu früheren wirtschaftlichen Abschwüngen
macht Mercadal an zwei wesentlichen Punkten fest: „Sie wurde durch den großen
Lockdown weltweit künstlich erzeugt, und die Zentralbanken fangen quasi alle
aufgrund der Krise aufgenommenen Schulden auf.“ Die IWF-Experten erwarten
bereits für kommendes Jahr wieder ein globales Wirtschaftswachstum von 5,8
Prozent. Der OFI-Stratege hält diese Prognose allerdings für zu optimistisch:
„Wir gehen davon aus, dass die Wirtschaft zwei bis drei Jahre brauchen wird,
bis sie das Vorkrisenniveau von 2019 wieder erreicht.“ Damit geht Mercadal eher
von einer U- statt einer V-förmigen Erholung aus.
Gerade in schwierigen Phasen macht die Auswahl der richtigen Aktien den Unterschied. Sowohl der US-amerikanische Fondsanbieter Alger als auch der Schweizer Vermögensverwalter Bellevue Asset Management empfehlen Anlegern einen Blick auf Nebenwerte. Die Alger Experten haben die letzten drei Rezessionen in den USA, ausgehend vom Tiefststand an den US-Aktienmärkten, betrachtet. Gerechnet vom Börsentief hat der US-Nebenwerte-Index Russell 2000 in den folgenden zwölf Monaten im Schnitt rund 38 Prozent zugelegt, während die Large Caps im S&P 500 nur 22 Prozent gestiegen sind. Aktuell würden Nebenwerte, gemessen am KGV, mit dem deutlichsten Abschlag seit zwei Jahrzehnten gegenüber den Large Caps gehandelt. Vor diesem Hintergrund sollten Investoren aus Sicht von Alger auch auf hochwertige Small Caps setzen. Birgitte Olsen von Bellevue Asset Management hat die europäischen Nebenwerte im Blick und geht davon aus, dass diese die Krise besser meistern können als großkapitalisierte Unternehmen. Allerdings müssten Anleger sehr selektiv vorgehen und dürften bei der Qualität der Unternehmen keine Kompromisse eingehen. Die Fondsmanagerin empfiehlt, auf Bilanzqualität und Cashflow-Generierung zu achten. Starke Unternehmen könnten schwachen Mitbewerbern den Rang ablaufen und nach der Krise als Gewinner hervorgehen.
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